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Kronos

Kilian Ratey

Eigenartig. Jeden Morgen, solange er sich zurück erinnern konnte, ging er seinem üblichen Ablauf nach. Er war ihn so gewohnt, dass es irritierend in seiner Befremdlichkeit für ihn gewesen wäre, hätte er sich je erlaubt, davon abzuweichen. Jener Ablauf verlief wie folgt: Er erhob sich aus seinem Bett, goss sich einen Tee auf, trat mit besagtem Tee vor die Tür, betrachtete die große, hohle Eiche, welche im wuchernden Garten neben seinem Fenster stand und ging mit der Zeitung unter einen Arm geklemmt wieder ins Haus. Sein Großvater hatte diesen Baum gepflanzt, als sein Vater noch ein Säugling war. Doch die Tage, als sich dieser morsche Koloss, der durch den Wind derart gebogen war, dass es so aussah, als würde er das Haus umarmen und infolgedessen langsam eins mit dem Haus werden, noch in einem Blumentopf befand, waren längst vorüber. In diesem Punkt sympathisierte er mit ihm.

Bislang hatte er den Baum lediglich von unten gesehen. Nicht einmal als Kind hätte er sich getraut, ihn zu erklimmen, zumal er in seiner Familie als eine Art Heiligtum galt. Tatsächlich verspürte er bei dem Gedanken daran mehr Angst, als ein sonstiges Gefühl. Abgesehen davon, hätten das seine alten Knochen jetzt auch nicht mehr mitgemacht. Manchmal pfiff der Wind durch die Löcher im wurmzerfressenen Holz, was ihn an seinen Vater erinnerte. Wenn er nachts in seinem Bett schlief, konnte er ihn noch hören, wie er, den Schnaps im Arm, auf der Terrasse in seinem Schaukelstuhl saß und ein Liedchen pfiff. Es war immer dasselbe, und es übertönte jedes andere Geräusch der pechschwarz gefärbten Landschaft, sowohl das knarrende Holz als auch die Grillen im Schilf über dem Moor. An manchen Nächten bildete er sich ein zu hören, wie der Baum ähnliche Töne von sich gab.

An jedem anderen Tag hätte er über all diese Dinge gar nicht nachgedacht, doch heute war etwas Eigenartiges geschehen. Dort, wo er an jedem anderen Morgen seine Brille aufgefunden hätte, griff er ins Leere. Auch seine Kleider, sowie seine Decke waren unauffindbar, denn nichts als Leere umgab ihn, so dachte er. Aber ein Blick in die Ferne belehrte ihn eines Besseren: Die alte Eiche umschlang die Leere anstelle des Hauses. Ihre schweren Äste ließen sie in der Dunkelheit wie eine gigantische Kreatur mit spinnenartigen Zügen wirken. Sowie sie zur selben Zeit aus der Erde spross, so lag sie, vom Alter niedergezwungen vor seinen bloßen Füßen. Die vertrauten Geräusche des Lebens waren nicht mehr zu hören. Stattdessen umgab ihn eine bleierne Ruhe, in der die Dinge nicht mehr ihre einstigen Bedeutungen trugen.

Außer ihnen war ihm alles, was einst war, wie feiner Wüstensand durch die Finger geglitten und es zehrte an ihm. Er wollte nicht wahrhaben, dass das Haus nicht mehr existierte. Der Baum hatte ihm alles entrissen. Er brüllte ihn an, verfluchte ihn so lange, bis seine Stimme brach. Erschöpft saß er mit gesenktem Kopf an den Baum gelehnt und dachte nach. Er dachte an seinen Vater, an stumme Anliegen und an lautstarke Konflikte. Wenn er den Baum nur umgeschnitten hätte, dann wäre es vielleicht anders gekommen.

Die Leere wirkte auf einmal erdrückend. Sie presste gegen seinen Schädel, als versuche sie hineinzudringen. Sich der Traurigkeit hinzugeben war zwar verlockend, doch sie drängte ihn, zwang ihn zur Akzeptanz. Die Falten schwanden, seine Wunden vernarbten, zugleich wuchs er und lernte zu sprechen, zu laufen. Er trat näher an den Baum heran, legte seine Hand auf die raue, rissige Rinde und spürte eine starke Verbundenheit. In ihren tiefen Furchen erkannte er seine eigenen. Der Schmerz, der sie beide durchzogen hatte, schien plötzlich bedeutungslos. Er verzieh ihm dafür, sich der Zeit hingegeben, wie auch, ihn mit sich gerissen zu haben, bevor er sich selbst dazu willens sah.

Ihm war nicht klar, für wie lange, doch für den Augenblick spendeten sie in ebenjener Leere einander Trost. Er legte sich in eine Alkove im Stamm des Baums. Müde schloss er die Augen und in der Finsternis ertönte eine vertraute Melodie.


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