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Verborgene Schuld

Noah Cimerlajt

In der nicht allzu fernen Zukunft, in der Technik alles durchdringt und nichts mehr privat scheint, lebt Sheriff Tom Williams zurückgezogen in einem kleinen, abgeschiedenen Haus, am Rande einer entmenschlichten Metropole. Draußen surren die Drohnen, die Straßen flimmern unter der Last der allgegenwärtigen Überwachung, und die Menschheit hat sich vollständig dem Fortschritt hingegeben. Künstliche Intelligenzen regeln den Alltag, und das autonome System, das einst nur unterstützte, hat mittlerweile die Kontrolle übernommen. Doch für Tom bleibt die Zeit stehen, als wäre er ein Relikt aus einer vergangenen Ära, gefangen in einem ewigen Kreislauf aus Schuld und Erinnerung. 

Jeden Morgen dasselbe Ritual. Er steht auf, zieht seine abgewetzte Lederweste über – ein Überbleibsel seiner verstorbenen Frau, das einzige, das ihm geblieben ist – und betrachtet die Stadt aus der Ferne. Die holografischen Werbetafeln und die flirrenden Lichter erinnern ihn an alles, was er verloren hat: seine Frau, seine Familie, seine Ehre. Alles, was jetzt von ihm übrig ist, ist ein alter Sheriff, gefangen in der eigenen Vergangenheit, in einem Zeitalter, das keinen Platz mehr für Menschen wie ihn hat.

Vor Jahren hatte Tom einen verhängnisvollen Fehler gemacht. In einem Anfall von Verzweiflung und blindem Zorn war seine geliebte Frau Eleanor gestorben, und er hatte es als Unfall deklariert – zumindest nach außen hin. Doch er wusste, dass es mehr als das war. Es war seine Schuld. Es war seine Wut, die sie das Leben gekostet hatte. Um sich selbst zu retten und die schmutzige Wahrheit zu vertuschen, hatte er Calvin Riggs – einen schmächtigen, unbedeutenden Mann – für den Mord verantwortlich gemacht. Riggs, der nie aufgehört hatte, Tom zu vertrauen, wurde zum Sündenbock in einem Netz aus Lügen, das sich unaufhörlich zusammenzog. Tom war sich sicher, dass das System ihn decken würde, dass die Welt niemals die Wahrheit erfahren würde. Und es hatte funktioniert – bis jetzt.

Jahre vergingen, und die Welt um ihn herum entwickelte sich weiter. Aber Tom blieb stehen, als würde die digitale Revolution an der Schwelle seines Hauses haltmachen. In den Städten wandelten die Menschen, angebunden an ihre Virtual-Reality-Brillen und augmentierten Körperteile, auf ihrem Pfad der Selbstoptimierung. Doch für Tom blieb die Zeit an dem Tag stehen, an dem er den letzten Funkspruch seiner Polizeikarriere gemacht hatte.

Eines Abends, als Tom, mit einem Glas Whiskey in der Hand, in seinen Sessel sank, erschien vor seinem Haus etwas, das nicht aus dieser Welt zu sein schien. Ein Mann, den er nie vergessen hatte, stand im Schatten des Dämmerlichts: Calvin Riggs. Tom erkannte sofort die tiefe, durch Wut verzerrte Stimme. Riggs, dem die Technologie des Gefängnissystems neue Arme und Augen gegeben hatte, war gekommen, um die Zukunft einzufordern, die Tom ihm gestohlen hatte. Nicht um Rache, sondern um Klarheit, um die Wahrheit, die lange verborgen lag.

„Du hast alles von mir genommen, Tom“, sagte Riggs, dessen Augen jetzt mechanisch glühten, als wären sie geschmiedet aus einem metallischen Albtraum. „Doch du wirst das nicht mehr verbergen können. Die Stadt sieht alles. Es gibt keine Geheimnisse mehr in dieser Welt.“

Toms Hände zitterten. Zum ersten Mal seit Jahren verspürte er Furcht – nicht vor Riggs, sondern vor der Wahrheit, die er so lange unterdrückt hatte. Die ganze Welt war ein Netzwerk von Daten, und jeder Schritt, jedes Wort, jede Entscheidung wurde irgendwo gespeichert, in den unendlichen Weiten des digitalen Universums. Er wusste, dass die künstlichen Augen, die überall lauerten, mehr als nur Zuschauer waren. Sie kannten jedes Detail, jeden Funken Dunkelheit, den er so verzweifelt versteckt hatte.

Die Stadt schien sich zu erheben, die Drohnen umkreisten das Haus wie Geier, die auf den Moment warteten, sich auf einen letzten Überrest der Menschlichkeit zu stürzen. Es gab kein Entkommen. Doch Tom hatte nie wirklich vorgehabt, zu fliehen. Es war die Last der Schuld, die er zu lange getragen hatte, die ihn hier festhielt.

„Ich habe es getan, Riggs“, murmelte Tom schließlich, seine Stimme brüchig. „Ich habe dich verraten. Es war meine Schuld.“

Riggs sah ihn an, sein Blick eine Mischung aus mechanischer Kälte und menschlichem Zorn. „Ich weiß“, antwortete er. „Und die Welt weiß es jetzt auch.“

In diesem Moment wurde Tom klar, dass es in einer Zukunft, in der nichts verborgen bleibt, keine Vergebung gibt. Die Technologien, die die Menschheit einst dazu bringen sollten, transparenter zu werden, hatten eine Welt geschaffen, in der Geheimnisse nicht mehr existierten, in der jede Schuld, jede Sünde gnadenlos offenbart wurde. Es war nicht die Stadt, die Riggs zurückgebracht hatte, es war die allsehende Macht der Maschinen. In einer Welt, in der Daten alles und Menschen nichts sind, konnte die Vergangenheit niemals ruhen.

Tom stand da, während Riggs ihn beobachtete. Doch es war nicht der Zorn des Mannes, der ihn zermalmte, sondern die Erkenntnis, dass es keine zweite Chance geben würde. Nicht für ihn. Nicht in dieser Zukunft.

Die Drohnen umkreisten sie lautlos, ihre Linsen auf ihn gerichtet, während Toms letzte Worte ungehört in der kühlen Abendluft verhallten.


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