Es ist kalt, mit jedem Atemzug bildet sich eine kleine Wolke vor meinem Gesicht. Draußen liegt eine dicke Nebeldecke über den Wiesen und Feldern. Im Nebel hört man alles nur gedämpft und bei jedem Schatten, jedem Geräusch jagt ein Schauer über den Rücken sodass sich die Haare an den Armen aufstellen. Wenn ich unterwegs bin, kriecht die Feuchtigkeit unaufhaltsam unter meine Kleidung und saugt die Wärme aus dem Körper. Das Wetter ist definitiv ungemütlich, dennoch stehe ich auf, gehe zum Wandschrank. Mein Gewehr lehnt ganz hinten, versteckt von mottenzerfressenem Gewand, Spinnweben und Staub. Ich nehme es in die Hand und freue mich über das vertraute Gewicht und das kühle, glatte Metall an meiner Haut. „Habe immer etwas, um dich zu schützen.“ Ich lasse meinen Blick noch einmal durch den düsteren Raum schweifen und gehe. Ein Schwall eisiger Luft drängt sich mit dem Öffnen der Tür ins Zimmer, es ist schwer zu glauben, dass es noch kälter werden wird. Meine Schritte hallen in den dunklen Gängen und werden von den kahlen Wänden im gesamten Haus verteilt. Die Bruchbude ist es fast nicht wert, Haus genannt zu werden, aber für den Moment muss ich mich damit zufriedengeben.
Meine Füße tragen mich wie von selbst durch den kleinen Fichtenwald zum hinteren Ende des Grundstücks. Ich sehe den wackligen Schuppen erst, als er wie ein Schiff nur wenige Schritte vor mir aus den wogenden Nebelschwaden bricht. Mit vor Kälte steifen Fingern fummle ich die Kette mit einem einzigen, alten Schlüssel unter meiner Jacke hervor und stecke ihn in das rostige Schlüsselloch. Ohne einen Laut lässt er sich drehen, ich habe das Schloss gut geölt. Durch die Feuchtigkeit hat sich aber die Holztür verzogen und ich muss mich mit meinem ganzen Gewicht gegen sie stemmen, um in das Innere der Hütte zu gelangen.
Der Junge liegt noch genau so da, wie ich ihn verlassen habe. Er sieht schön aus, seine kupferfarbenen Haare passen perfekt zu seinem moosgrünen Schal. Seine Augen sind geschlossen und ich kann die braunen Tupfen in den verschiedenen Grüntönen nicht bewundern. Ich weiß, dass er einen Hund hat, kenne seine Lieblingsjahreszeit und seinen Lieblingsbaum. Die Versuchung, ihn zu berühren ist zu groß, ich gehe neben seinem Kopf in die Hocke und streiche über die kalte, weiche Haut seiner Wange. Eine Minute, zwei Minuten. Die Zeit steht still. Erst das heisere Bellen eines Fuchses reißt mich wieder zurück in die Realität.
Schnell erhebe ich mich, zu schnell, schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen, ich muss mich an der Wand abstützen. Ich gehe um den Jungen herum zu einem Bücherstapel, sorgsam darauf bedacht, nicht in die nicht mehr ganz so frische Blutlache unter ihm zu steigen. Es ist gar nicht so viel Blut, wie ich erwartet habe. Ich öffne das zuoberst liegende Buch am Stapel, es ist dick und die Seiten sind vergilbt. Es sind die Bücher aus dem Haus, aber wir haben sie nicht gelesen. Seite für Seite schlage ich auf, nehme vorsichtig die gepressten Lindenblätter dazwischen heraus. Weiter geht es mit den anderen Büchern. Winterlinden, Sommerlinden – jedes Blatt hat die Form eines Herzens. Er hat viele Blätter von seinen Lieblingsbäumen gesammelt und gepresst. Ich streue sie über ihn, will sie ihm mitgeben auf seine letzte Reise. Die Benzinkanister stehen schon seit heute Morgen hinter der Tür. Als ich sie öffne, dringt der scharfe Benzingeruch in meine Nase. Ich atme tief ein und beginne, den Boden der Hütte mit Benzin zu tränken. Auch rund um die schäbige Holzhütte verteile ich ihn. Als alle Kanister leer sind, schaue ich mir den Jungen ein letztes Mal an. Er liegt am Boden, ein Meer aus grünen Herzen verdeckt das verräterische Blut. Er ist wunderschön.
Ich hole eine Packung Zündhölzer aus meiner Jackentasche. Inzwischen ist mir so kalt, dass ich viele Versuche brauche, um ein Streichholz zu entzünden. Orangerot wie seine Haare lodert die Flamme auf. Ich werde nie wieder grüne Lindenherzen sehen können, ohne an ihn zu denken.