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1.Platz: In liebevoller Erinnerung

Jasmin Fuchs

Mein Körper ist zu Asche zerronnen.
  Zu grauem Sand. Zu einem Zustand ohne Körper, gefangen in einem dunklen Raum, dessen Decke nun von außen geöffnet wird.
  Finger durchlaufen die Reste, die von mir übrig sind. Im nächsten Moment liege ich unter Kälte und Nacht auf einer geschlossenen Hand. Ich erkenne die Besitzerin der Hand – Moya –, erkenne den Ring, den sie seit unserer Hochzeit nicht abgenommen hat, und nun auch meine Umgebung: Graz. Die Stadt, in der ich aufwuchs.
  Ich erinnere mich an die Perchtenläufe. An Tierfelle und verfilztes Haar, das die Menschlichkeit der Perchten verdeckte. An die Krümmung von Hörnern, an Masken mit hervorquellenden Augen, Ketten, die über Beton schleiften, an peitschende Ruten und Krallen, die die Luft zerrissen.
  Ich erinnere mich an die Weihnachtsmärkte. An lebendige Straßen, gesäumt von goldenen Sternen und Engeln. An weiße Flocken, die sich in Wimpern und Wollhandschuhen verirrten. An den Duft nach Zimtschnecken, Punsch, Tannenzweigen und Lebkuchen.
  Ich merke, wie ein Teil von mir aus Moyas Hand gleitet, im Schnee versinkt. Meine verbliebenen Teile schüttet sie in das Gefäß, den dunklen Raum. Und schließt den Deckel.

 

Als die Decke der Urne wieder geöffnet wird und Licht auf mich fällt, ist meine Umgebung eine andere.
  Knarren. Moya drückt die Tür des Holzhauses auf, das vor uns liegt. Sägespäne und Staub vermengen sich mit mir, als wir Peter Roseggers Geburtshaus betreten – den Ort, an dem ich ihr Antlitz erstmals erblickte.
  Es war Herbst gewesen.
  Es war Herbst gewesen und ich war gekommen, um zu malen. Um die zarten Linien der Fäden, die das Spinnrad umklammerten, in meinem Skizzenbuch festzuhalten. Um die Stiefel, die von der Holzleiter hingen, mit Bleistiftminen auf altes Papier zu übertragen. Sanft fuhr ich über das Buch, über das grüne Herz, das darauf abgebildet war. Gerade zeichnete ich die weinrote Decke eines Wiegenbetts, als die alte Holztür geöffnet wurde.
  Dunkles, lockiges Haar. Gütige Augen. Gesichtszüge so lieblich wie Regentropfen. Sie war jung gewesen. Jung und bildhübsch.
  Zuerst schenkte Moya mir keine Beachtung. Doch irgendwann trat sie neugierig näher, erkundigte sich nach meinem Tun. Ich erzählte ihr, ich sei Maler und fertige Zeichnungen von Orten in der Steiermark an. Sie leitete Kunstausstellungen und noch nie zuvor war ich jemandem begegnet, der sich so sehr für Kunst begeisterte wie Moya. Ich hatte mich vom ersten Moment an in sie verliebt.
  Zwei Jahre später machte ich ihr einen Heiratsantrag. Inmitten des Narzissenfests in Altaussee. Inmitten von Figuren aus weißen Blüten mit orangenen Nebenkronen hatte Moya ohne zu zögern »Ja« gesagt.
  Wenige Monate später steckte ich ihr einen Ring mit einem Smaragd in Herzform an den Finger. Zur selben Zeit war der Almabtrieb in vollem Gange gewesen. Hufklappern von Kühen, Glockenläuten und Ziehharmonikas. Um uns herum tanzte man zu den Saiten fröhlicher Musik, in Dirndln und Latzhosen, im und gegen den Uhrzeigersinn. Am Ende des Tages küsste Moya mich mit Tränen in den Augen.
  Auch jetzt kleben ihr Tränen auf der Wange. Ich will sie trösten, will sagen, alles sei gut, dass ich sie liebe und alles gut würde, doch schon rinne ich aus ihrer Hand. Und wieder wird der Deckel geschlossen.

 

Als sie den Deckel dieses Mal öffnet, lächelt Moya.
  Eine Schicht Eis hat sich auf die Urne gelegt. Um uns herum schneegekrönte Berggipfel, zersplitternde Kälte und uferlose Weiten. Wir stehen am Dachstein, an der Spitze der Treppe ins Nichts, als Moya flüstert: »Dein letzter Wunsch.«
  Ich erinnere mich daran, wie ich am Sterbebett einen Wunsch äußerte: Noch einmal alle Plätze in der Steiermark zu besuchen, die mein Leben prägten – was Moya ermöglichte.
  Ich beobachte, wie sie mich über das Geländer streckt. Noch ein letztes Mal sehe ich ihr Lächeln, den Abschied in Moyas Augen. Noch ein letztes Mal schlägt mein Herz für die Steiermark. Und noch ein letztes Mal verschmelze ich mit ihr und riesle

 

 

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