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Muss man leben, um die Zukunft zu kennen?

Anna-Lena Maier

Es war das Ende seines Lebens. Er wusste nicht, wie lange es noch dauern würde, bis seine Kraft ihn endgültig verließ oder wie lange er es noch schaffte, die Hand seiner Frau an seiner Brust zu halten. Ihre Hand war so warm und der gemeinsame silberne Ehering hing matt an ihrem Fingerknöchel herab. Warum war ihm nie aufgefallen, wie zerbrechlich sie doch war? Sie hatte durch seine Diagnose abgenommen und doch glitzerten ihre Augen noch genauso wie vor 20 Jahren. Für ein paar Sekunden wollte er die Kraft aufbringen, seine Augen zu öffnen, um die ihren ein letztes Mal zu bewundern. Während sie begann, sich zu verabschieden und ihm etwas zu erzählen, öffnete er sein linkes Auge ein wenig. Ihre Stimme klang so fern, wie eine Erinnerung, doch noch war er nicht tot und so wollte er ihren Worten ein letztes Mal lauschen.

„Weißt du noch, damals?“

Ihre Stimme bebte beim Sprechen, vielleicht weil sie sich unsicher war, ob er ihr noch folgen konnte, vielleicht aber auch, weil sie weinte.

„Ich war allein am Strand mit meinen Eltern. Während sie am Wasser waren, lag ich lieber oben in meinem Sessel und las mein Buch. Für mich war es hier zu kalt und für dich auch. Du beobachtetest mich mit diesem ernsten Blick, genauso wie jetzt, wenn ich etwas an mir kritisiere.“

Ein lautes Schluchzen brach ihre Worte ab und gab ihm Zeit, ihre Sätze zu verinnerlichen.

„Nun, du starrtest mich an, und da fiel mir auf, dass wir die gleiche Novelle lasen. Aber du warst damals noch lange nicht so überzeugt von der Geschichte wie heute, das sah ich in deinem Blick.“

Hätte er die Kraft gehabt zu lachen, hätte er sie ausgelacht und gesagt, dass sie wohl verrückt wäre. Doch dann dachte er darüber nach und spürte, wie gut sie ihn kannte. Bevor er sie getroffen hatte, hätte er nie an eine Beziehung geglaubt, die länger als die Zukunft währen könnte. Doch jetzt tat er es.

„Ich war damals genauso schüchtern und dich anzusprechen war für mich damals so schwer, wie es heute ist, dir diese – unsere – Geschichte zu erzählen.“

Er hatte ihr Gesicht beim Sprechen bewundert, doch nun blickte er auf ihre und seine Hände hinab, die eng ineinander verschlungen waren. Eine Träne tropfte auf sein Handgelenk und erschütterte ihn. Er wollte sie umarmen, sie beschützen und ihr – wenn auch zum tausendsten Mal – sagen, wie stark sie sei und wie sehr er sie liebte. Aber er konnte nicht. Sein Auge wurde immer schwerer, und langsam schloss es sich.

„Wir kamen ins Gespräch, und ich weiß noch genau, wie du mir erklärtest, warum das Buch völlig kitschig sei und völlig übertrieben. Wie sollten zwei Menschen sich so lieben, dass sie selbst gemeinsam die Zukunft besiegen könnten?“

Ihre Stimme klang nun wie aus weiter Ferne, und es machte ihn traurig, dass sie glaubte, er habe nie daran geglaubt, dass zwei Menschen – so wie sie und er – länger als die Zukunft bleiben könnten. Nun war er reifer als vor 20 Jahren. Er würde ihre Hand auch nach seinem Dahinscheiden immer wieder nehmen, mit ihr am Strand entlanggehen und sie niemals loslassen. Plötzlich stockten seine Gedanken. Warum hatte sie aufgehört zu reden? Er musste erfahren, was sie ihm noch sagen wollte. Mit aller verbliebenen Kraft öffnete er ein letztes Mal sein rechtes Auge und blinzelte verwirrt.

„Ich weiß nicht, ob du mich noch hörst, aber ich glaube – nein, ich bin überzeugt –, dass wir beide wissen, dass wir über die Zukunft hinaus bleiben werden. Egal wo, egal wann. Die Erde war uns sowieso immer zu klein. Ich denke, die Zukunft ist ein angemessener Ort für uns. Ich liebe dich.“

Unter ihren beiden Händen begann sein Herz ein letztes Mal wild zu pochen, wie bei ihrer ersten Begegnung. Bis die Alarme losgingen und ihnen nur noch die Zukunft blieb.


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