Paulustorgasse 13a, 8010 Graz, 3. Dezember 2024. Reihe 11, außen links. Die sanfte Mittagssonne kitzelt meine Wange. Wehmütig blicke ich nach draußen. Ein etwas klein geratener Spatz hüpft freudig auf und ab. Hinterm Rednerpult leiert ein raumfüllender Greis emsig seine auswendig gelernte Moralpredigt über kreatives Kritzeln herunter, die er wohl beim Erzbischof von Deutsch-Zentralmaturanien abgeschrieben hat. Möglicherweise auch umgekehrt. Dabei gluckert er abwechselnd links und rechts am Mikro vorbei, verabsäumt jedoch nicht – seinem Jugendhelden, Freddie Mercury zu Ehren – auch noch den letzen Tropfen Lebensgeist aus dem Ständer zu quetschen.
Ein verstohlener Blick nach rechts. Meine Deutschlehrerin war eingenickt. Von ihrem erdrückenden Enthusiasmus, den sie im Klassenzimmer an den Tag legt, sind nur noch Spurenelemente übrig. Ich tippe auf Eisenmangel. „Ich erwarte Großartiges von dir!“
Hm.
„Komm, lass dir was einfallen. Du bist doch ein kreativer Kopf!“
Tja, heute nicht. „Zukunft bleibt“. Blöder gehts auch nicht. Was soll einem dazu denn einfallen?
„Klimawandel“, schießt meine Sitznachbarin hervor. Ich starre sie unverwandt an. Was war nochmal ihre Augenfarbe? „Weil wir grad drüber gredet haben“, klärt sie die Tischplatte auf. Irgendjemand hat dort „A+D“ reingeritzt, inmitten eines schlauchbootförmigen Herzens, dann aber wieder wutentbrannt durchgestrichen. Es könnte aber auch AFD heißen. Ob die beiden sich wohl auch schon über Klimawandel unterhalten haben?
Mein eigentlicher Sitznachbar – wenn er einmal nicht krank ist – nickt nur. Ich kenn ihn gut genug, um zu wissen, dass es nichts bedeutet. Genauso könnte es aber auch alles bedeuten.
Endlich nimmt der Greis die Finger vom Mikro. Ob er noch redet oder nicht kann ich nur an seinen Lippen ablesen. Vorerst scheint er fertig zu sein. Nach einer so langen Show könnte aber selbst Freddie Mercury nicht auf manische Zugabe-Rufe aus dem Publikum zählen.
Nur mein Trommelfell kreischt.
Nichtsdestotrotz deutet er mit einer einladenden Geste in die erste Reihe – nicht ohne dabei sein jugendliches Lächeln tanzen zu lassen – wo sich daraufhin zwei blondierte Damen erheben, die sich wohl zum Ziel gesetzt haben, ihr Gewicht auf das ihrer unförmigen Baumel-im-Öhrchen-Dinger zu reduzieren. Notfalls auch das Gewicht ihrer unförmigen Baumel-im-Öhrchen-Dinger auf ihr eigenes zu maximieren. Die eine ist jung. Ich mag sie. Die andere nicht so sehr…
Wie eine sorgsam gepflegte Thujenhecke reihen sich die drei Ehrengäste der Veranstaltung auf der Tribüne auf. Den Gärtner möchte ich nicht kennenlernen.
Die junge hat ihr eigenes Mikro. Verständlicherweise. Ob nun Freddie Mercury oder greiser Missionar, der Schweiß muss unerträglich sein. Nachdem sie ihre Glückseligkeit darüber kundgetan hat, Leuten wie mir zu ihren ach so kulturell wertvollen Leistungen gratulieren zu dürfen, stimmt sie ein wässriges Loblied für all jene an, die… naja, durch ihre pure Teilnahme ebenfalls den Sieg erringen. Sie ist nervig. Ich richte meinen Rücken gerade. Ich mag sie trotzdem. Eine glatte neun.
Der tosende Applaus muss wohl auch meine Deutschlehrerin geweckt haben. Beschämt beginnt sie ebenfalls eifrig zu klatschen. Ich halte mich vornehm zurück. „Bin ich eingeschlafen?“, flüstert sie zu mir herüber. „Sie haben nur so getan“, sag ich. Verdutzt blickt sie wieder nach vorne. Ich blicke aus dem Fenster.
Der Spatz hält inne. Starrt mir in die Augen. In denen sich seine Augen spiegeln, in denen sich meine Augen spiegeln, in denen sich seine Augen, in denen sich meine, in denen sich, in denen, in, in, in. Meine Augen sind das Einzige, das er nicht sieht.
Ich frag ihn, wieso ich hier bin. Er fragt mich, wieso ich nicht hier bin. Ich sag ihm, ich weiß es nicht. Da grinst er und fliegt davon.
Ein Stoß gegen meine Schulter. „Du wurdest aufgerufen!“ 2. Person, Singular, Präteritum, Passiv.
Ich lache, dann steh ich auf.
Reihe 10
Applaus.
Reihe 9
Reihe 8
Aber irgendwie…
Reihe 7
Reihe 6
…maschinell.
Reihe 5
Das Lächeln…
Reihe 4
…zu weiß.
Reihe 3
Reihe 2
Meine Deutschlehrerin trällert am lautesten.
Reihe 1
Nein.
Nein?
Nein.
Ich schüttle Hände, bedanke mich, nicke freundlich, nehme ehrfürchtig meine Urkunde entgegen. Und ein kleines Kuvert. Klitzeklein. 500€ in bar.
Am lautesten trällert der Spatz.
Die zweite blonde Dame greift zum Mikro, um die Feier endlich auch mit ihrem Eitel zu bekleckern.
Der Spatz?
Sein Lächeln ist echt, sein Klatschen ist wohlwollend.
„Zukunft bleibt“, beginnt sie feierlich. Ich nehm ihr das Mikro aus der Hand. Steck ihr stattdessen die wertlose Urkunde hin. Die 500€ behalte ich.
„Die Zukunft mag bleiben“, sag ich.
„Aber ich geh.“