Sie schreit.
Ich sehe es an ihrem aufgerissenen Mund, in dem eigentlich ein Schnuller stecken sollte. Das Schreien selbst höre ich nicht. Nie.
Meine Finger tasten nach dem Schnuller, der auf das Fotoalbum in meinem Schoß gefallen ist. Wind fegt über die weiß gestrichene Veranda, peitscht durch die Maisfelder dahinter. Dunkle Wolken haben sich vor die Sonne geschoben.
Ich stecke ihr den Schnuller in den Mund. Wiege sie sanft im Arm, wippe mit dem hölzernen Schaukelstuhl. Summe eine Melodie, spüre die Vibration in der Kehle. Ob ihre winzigen Ohren sie wohl hören können?
Die Ärzte gehen nicht davon aus. Nicht nach den Hörtests, die sie heute in der Klinik an ihr durchführten. Der Verdacht auf Taubheit bestand schon zuvor, doch heute hat sie nicht ein einziges Mal auf die Geräusche reagiert, die die Ärzte einspielten. Ein klarer Hinweis darauf, dass ich die Taubheit an sie vererbt habe.
Ich betrachte ihre kleinen Augen, die mich verschlafen anblinzeln. Schlinge mir die schwere Wolldecke enger um den Leib.
Meine Schuld.
Wäre nicht ich ihre Mutter geworden, könnte sie den Wind und mein Summen hören. Wäre nicht ich ihre Mutter geworden, würden ihr noch Aussichten auf eine schöne Zukunft bleiben.
Der salzige Geschmack von Tränen sickert auf meine Lippen. Mit steifen Fingern greife ich nach der Tasse Tee, die inzwischen kalt geworden ist. Blättere durch das Fotoalbum, das auf meinem Schoß ruht.
Ein einsamer goldener Sonnenstrahl fällt auf das Bild vor mir. Auf die blauen LED-Lichter, die die hölzerne Tanzfläche umrahmen. Das Publikum ist abgedunkelt, ebenso wie die Juroren hinter dem Tisch mit dem blassen Tischtuch. Das Mikrofon der Moderatorin glitzert golden in der Dunkelheit, ebenso wie die Kronleuchter an der hohen Decke. Scheinwerferkegel tauchen die beiden Gestalten auf der Tanzfläche in mattes Licht.
Ich erinnere mich an unsere Verbeugung zu Beginn. Daran, wie er meine Hand ergriff. Und der Tanz begann.
Die Musik hörte ich nicht. Nie.
Stattdessen orientierte ich mich an ihren Vibrationen im Boden. An zwei kräftigen und intensiven Schlägen – dem Bass. Sie strömten durch meinen gesamten Körper, als hätte die Tanzfläche einen Puls.
Ich orientierte mich an den Lichtern, die bei jedem Schlag rot aufglühten. An seinen Berührungen – daran, wie er bei jedem Herzschlag des Basses meine Finger drückte. Mir so den Rhythmus der Musik signalisierte, während ich zwischen seine Füße trat. Mich von ihm führen ließ.
Nach dem zweiten Schlag war das Vibrieren im Boden stets weicher geworden. Sanfter und gleichmäßiger. Es klang in meinen Füßen nach, während die LED-Lichter bläulich glommen und ich zur Pirouette ansetzte.
Zwei Schläge. Rote Lichter. Schritte.
Zarte Wellen. Blaue Lichter. Pirouette.
So lange, bis das Publikum irgendwann erhellt wurde und ich in lautlos klatschende Hände blickte. Bis sich auch die restlichen Paare auf der Tanzfläche eingefunden hatten und die Moderatorin den Sieger des Wettbewerbs verkündete.
Unsere Namen hörte ich nicht. Ich sah lediglich, wie die Lippen der Moderatorin sie formten.
Erinnere mich daran, wie ich im nächsten Moment in seinen Armen lag. Wie er mich durch die Luft wirbelte, während goldener Konfettiregen auf uns einprasselte. Golden wie der Sonnenstrahl, der noch immer über das Bild tanzt.
Ich lasse das Album sinken.
Wir hatten gewonnen. Trotz meiner Taubheit. Obwohl ich die Musik nie hören konnte.
Wir hatten gewonnen, weil ich meine anderen Sinne einsetzte. Weil ich mich von den Vibrationen im Boden, den Lichtern und den Berührungen meines Partners leiten ließ.
Mein Blick wandert hinab zu ihrem Schnuller, ihren Ohren, während goldene Lichtstrahlen durch die trübe Wolkendecke brechen. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Und lächle an ihrer warmen Haut.
Denn ich begreife:
Auch sie wird gewinnen können. Obwohl sie die Musik und den Wind und mein Summen nicht hört.
Auch sie wird im Leben gewinnen können.