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Ronja Ulrych

Mira würgt, kotzt ins Badezimmerwaschbecken. In der einen Hand liegt ihre Zahnbürste, die andere hält lange braune Locken aus ihrem Gesicht. „Fuck“ flüstert sie, während ihr Tränen in die Augen steigen.

Es ist der Morgen Miras 18. Geburtstages. Die Vorfreude und Aufregung flattern in ihrem Bauch wie ein Schwarm Motten.

Sie spült sich den Mund aus und schaut sich selbst über den Spiegel in die Augen. Glasig, leicht rot. Ein Blinzeln und ein zuversichtliches Lächeln.

Miras Mutter öffnet die Badezimmertür. Ihr Blick dreht Mira den Magen noch einmal um.

Beim Frühstück kratzt Mira mit ihrer Gabel die Creme ihres Geburtstagskuchens ab und platziert sie am Rand ihres Tellers.

Ihre Mutter bewundert sie für ihre Zurückhaltung, wie sie immer das richtige, in einer fast zu kleinen Portion, zur richtigen Zeit am richtigen Ort isst. Sie selbst, so verkündet die Mutter von Miras Mutter regelmäßig, zergeht in ihrer Lust.

Mira isst den Tag über kaum. Das Gefühl von Hunger ersetzt die Motten in ihrem Bauch, die zehrende Leere eine willkommene Abwechslung. Sie versucht nicht darüber nachzudenken, wie gefährlich dieser Austausch sein kann, schon einmal war. Über die tagelange Leere in ihrem Körper, die das ständige Surren ersetzte. Darüber wie stolz ihre Großmutter sie betrachtete, die Komplimente zu ihrer Figur, die sie plötzlich bekam.

Sie schiebt die, nun doch gedachten Gedanken zur Seite und versucht wieder der Konversation ihrer Freundinnen zu folgen, die heute alle für ihren Geburtstag zusammengekommen sind.

Sie sitzen in einer kleinen Bar in der Nähe des Meers. Miras Gesicht badet in warmem Kerzenlicht, das weiche Strahlen neutralisiert ihre angespannten Züge. Alina, ihre beste Freundin, betrachtet besorgt ihre Finger, die sich an dem Stiel ihres Glases festhalten, als würde deren Präsenz allein sie mit der Welt verankern. Sie weiß, wie schnell sich Miras Gedanken zu wuchernden Tentakeln entwickeln können, wie viel Kraft es sie kostet unter so vielen Menschen zu sein.

Schallende Musik zieht die Gruppe in den Innenraum der kleinen Bar.

„Frischfleisch auf der Tanzfläche.“, lallt Martin, einer der Stammkunden.

Er holt sein Handy aus der Hosentasche und drückt den Aufnahme-Button. Bunte Lichter, Glitzer und Haut zeichnen sich pixelhaft auf dem Display ab.

Mira schaut direkt in die Kamera und schließt ihre Augen, versucht ihn zu ignorieren. Lichtblitze pulsieren hinter ihren Liedern, während sie tanzt.

Sie zeigt ihm den Rücken, als er auf sie zukommt. Martins Blick wandert über ihren Arsch zu ihrer Taille, um die er seine Hände legt. Sie dreht sich zu ihm um, ihre haselnussfarbenen Rehaugen schauen direkt in seine.

Er ist mindestens zehn Jahre älter als Mira. Wut kocht in ihr auf über die Frechheit, die Gelassenheit, mit der er ihren Körper berührt, als wäre sie ein Stück Fleisch. Sie beißt die Zähne zusammen und findet zurück zu ihrer Gruppe, nimmt Alinas Hand und geht mit ihr raus, in die lauwarme Nachtluft.

Sie will in der Dunkelheit verschwinden, nicht nachdenken über den Körper, in dem sie lebt, die Meinung ihrer Mutter oder Großmutter, den Anspruch, den Unbekannte darauf nehmen.

Mira schlägt vor schwimmen zu gehen. Sie und Alina sperren ihre Räder auf, die in der Wiese liegen. Miras Haare fliegen ihr um den Kopf, als sie in die Pedale tritt.

Die zwei laufen über den Sand an den Strand. Sie schälen sich aus ihren Kleidern. Ihre nackte Haut leuchtet im schwachen Licht der entfernten Straßenlaternen.

Bloße Füße im Meer. Schaumige Wellen tanzen ihre Beine hinauf und wieder hinunter, während sie sich im Kreis drehen, jauchzend vor Glück und Kälte. Die Wellen halten ihre Körper die plötzlich frei von Stoff, Blicken und Wertung sind. Sie werden gehalten von einer Masse, die so viel größer ist als sie, in der ihre Konturen verschwimmen, die sie relativiert, hält und schützt. Euphorie sprudelt aus Miras Bauch, ihren ganzen Körper hinauf, beschwingt von Freiheit. Sie fühlt sich voll und sicher, hier, nur sie, das Meer und Alina.


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