TEXTE 2024 | FINALE 2024 | FINALE 2023
Manuel Hirschegger
Warum schweigen die Toten, frage ich. Was lässt sie verstummen, stopft ihnen das Maul. Lässt sie alles Leben mit leeren Blicken löchern. Verleiht ihnen das Recht im Kugelhagel unserer vielen Fragen den Unwissenden zu spielen. Ja, sie sind tot, aber wo lauert das Gewissen. Ist ihnen Ehre und Pflicht nichts mehr wert. *tick* Warum treibt im Strom meines Empfindens zunehmend dieses Gefühl der Ohnmacht umher. Schickt einen Puls durch alle Nervenstränge. Es schmerzt in meinen Gliedern. Lässt mein Blut gefrieren. Gänsehaut. *tack* Ich sage: Die Toten schweigen nicht. Sie brüllen. Sie kreischen. Sie heulen. Reißen sich die Haare aus vor Wut. Im metaphorischen Sinne, versteht sich. *tick* Acht Jahrzehnte lang haben wir unsere Ohren nicht geputzt. Drinnen trieft die Furcht, klebt die Vergesslichkeit und verstopft der Leichtsinn. Die Ignoranz. Für jedes Jahr ein Schnitt ins eigene Fleisch. Wir prügeln den Schmerz in die Hülle eines schrillen Schreies. Wir spielen quietschende Geigen in diesem Kreischorchester. *tack* Bald ist es Winter, bald bauen die Kinder Schneemänner und den Toten friert die Zunge am Gaumen fest. Auf ihren Gräbern steht der Supermarkt, in dem wir uns die billigen Lichterketten besorgen. Manchmal fällt uns gar die Rechnung oder eine Kupfermünze zu Boden und wir kauern mit dem Kopf ganz nah an der Erde, ganz nah dort wo sie uns Wortgewitter entgegendonnern. *tick* Seid still für einen Augenblick nur, sage ich. Hört ihr nicht. Das mahnende Säuseln. Das Seufzen. Und spürt ihr nicht. Wie euch das Salz eurer Tränen die Haut vom Knochen ätzt. *tack* Die Tinte der Nacht schwappt irgendwann aus ihrem Glas und hüllt auch unsere Sonne in ein ewiges Dunkel. Und dann erst werden wir es sein, die begreifen. Aber ihr wisst: Was niemand je bemerkt muss niemand je vergessen. Was heute ist, wird morgen sein. Also wozu das alles? Das sollte einer fragen.
weiterlesenLina Marte
Ich laufe. Die kalte Luft schlägt mir ins Gesicht, dringt durch meine Haut und lässt mich schaudern. Gerado so schaffe ich es in den Bus. Fast hätte ich ihn verpasst. Wäre ich auch nur eine Minute später losgegangen hätte ich wohl den späteren nehmen müssen. Im kehr Schluss habe ich nun den späteren Bus „verpasst“. Wäre ich zwanzig Minuten früher außer Haus gegangen hätte ich den Bus in dem ich nun eingezwängt zwischen lauten Volksschülern und griesgrämigen Berufstätigen stehe verpasst. Wäre ich heute zu Hause geblieben, hätte ich natürlich alle Busse verpasst. So verpasse ich jedoch was zu Hause geschieht. Mit jedem Gedanken, den ich an dieses Geflecht an verpassten Bussen verschwende, verpasse ich vermutlich interessantere Gedanken. Doch in dem Moment, wo meine Gedanken sich auf etwas anderes konzentrieren, verpasse ich diesen Gedanken Strang. Die Tür öffnet sich ein sehr kleiner aber laut schimpfender Volksschüler rammt mir seinen Ellbogen in meine Seite. Hinter ihm folgen noch ein paar weitere. Die Türen schließen wieder. Mit jeder Minute, die ich in diesem Bus stehe, verpasse ich das Leben außerhalb. Hätte ich heute ausgeschlafen würde ich länger wach bleiben können und würde so mehr vom Abend mitbekommen, hätte dafür jedoch den Morgen verpasst. Verpasse ich nicht dadurch hier und nicht dort oder da zu sein, dort und da? Aber wäre ich dort würde ich wohl da und hier verpassen? Wo soll ich sein? Vermutlich verpasse ich die Geburt des nächsten großen Superstars oder Politikers. In diesem, exakt diesem Moment stirbt vermutlich irgendwo irgendwer, wo es vermutlich wichtiger wäre zu sein als in diesem scheiß Bus! Apropos sterben, verpasse ich nicht durch meine bloße Existenz den Himmel oder einfach nur das Verrotten meines Körpers? Jeder muss alles immer machen, abends fortgehen, morgens den Sonnenaufgang sehen und zu Mittag irgendwo essen gehen. Alle treffen und alle kennen, alle mögen und alle hassen, alles erlernen und nichts vergessen. Das Ziel nie aus den Augen verlieren, während das Leben unablässig mit Dreck nach dir wirft und du, du musst all den Dreck fangen, sonst könnten dir ja die wenigen Blumen entgehen die ab und zu dazwischengeraten. Nie stehen bleiben, einfach weiterlaufen, egal wo hin, bloß nicht stehen bleiben. Wer steht und stoppt um sich sieht und tief ein und ausatmet, verpasst. Die Welt dreht sich erbarmungslos weiter. Ich muss hier raus. Die Türen öffnen sich ich setze einen Fuß auf den Vereisten Gehsteig und rutsche weg. Egal. Wer auch immer es gesehen hat, hat wohl genug damit zu tun weg zu kommen als in dieser Eiseskälte stehenzubleiben, mit dem Finger auf mich zu deuten und mich auszulachen. Und wenn doch, Hut ab, dass du dir die Zeit nimmst.
weiterlesenClemens Feil
Gen-Z; die Generation der Selbstliebe, Over-Night-Oats und Pride Paraden; Lebensgefühl zwischen lost und fly, mit Musik über Talahons mit Air Max Schuhen. Verwirrt und trotzdem selbstbewusst, ständig unzufrieden, wollen wir alle doch nur etwas finden, das wir lieben. Unsere Weltvorstellungen sind in einem Moment so süß wie der Eistee von Shirin, in der nächsten Sekunde prasseln Flyer der „Letzten Generation“ auf uns ein. Der Druck scheint plötzlich allein auf unseren Schultern zu lasten, einen weiter-lebenswerten Planeten zu schaffen. Wir bleiben am Abend zuhause, um uns selbst zu priorisieren, nur um uns dann wieder stundenlang auf TikTok zu verlieren. Am Ende gehen wir dann trotzdem noch spät abends in die Bar, weil im Hinterkopf kommen wir mit der FOMO nicht klar. Wir sind „Generation tolerant“, aber finden jede zweite Sache „cringe“ und lästern immer über die, die zu „judgemental“ sind. Jeder darf genauso sein, wie er will; wertungsfrei, bis die Bilder auf Only Fans kein Geheimnis mehr sind. Spielen unsere Geschwister das Spiel vom schwarzen Mann, wird das heftig kritisiert, trotzdem wird ein Fünftel unserer Generation noch immer in der Schule diskriminiert. Und wir fühlen uns so zerrissen, weil um uns herum die ganze Welt zerfällt; wir täglich auf Insta sehen, wie eine Mutter im Krieg ihr sterbendes Kind in den Armen hält. In der Schlange vorm Berghain steht währenddessen Väterchen Zeit; fragt sich, ob nach dem Warten auf Frieden noch Zukunft bleibt. Gen-Z; am Ende des Alphabets, am Anfang einer besseren Zukunft. Eine Zukunft, in der wir hoffentlich Liebe anstatt Kriege sehen, uns endlich fragen: „Was kostet ein Leben?“
weiterlesenRaphael Hohl
Paulustorgasse 13a, 8010 Graz, 3. Dezember 2024. Reihe 11, außen links. Die sanfte Mittagssonne kitzelt meine Wange. Wehmütig blicke ich nach draußen. Ein etwas klein geratener Spatz hüpft freudig auf und ab. Hinterm Rednerpult leiert ein raumfüllender Greis emsig seine auswendig gelernte Moralpredigt über kreatives Kritzeln herunter, die er wohl beim Erzbischof von Deutsch-Zentralmaturanien abgeschrieben hat. Möglicherweise auch umgekehrt. Dabei gluckert er abwechselnd links und rechts am Mikro vorbei, verabsäumt jedoch nicht – seinem Jugendhelden, Freddie Mercury zu Ehren – auch noch den letzen Tropfen Lebensgeist aus dem Ständer zu quetschen. Ein verstohlener Blick nach rechts. Meine Deutschlehrerin war eingenickt. Von ihrem erdrückenden Enthusiasmus, den sie im Klassenzimmer an den Tag legt, sind nur noch Spurenelemente übrig. Ich tippe auf Eisenmangel. „Ich erwarte Großartiges von dir!“ Hm. „Komm, lass dir was einfallen. Du bist doch ein kreativer Kopf!“ Tja, heute nicht. „Zukunft bleibt“. Blöder gehts auch nicht. Was soll einem dazu denn einfallen? „Klimawandel“, schießt meine Sitznachbarin hervor. Ich starre sie unverwandt an. Was war nochmal ihre Augenfarbe? „Weil wir grad drüber gredet haben“, klärt sie die Tischplatte auf. Irgendjemand hat dort „A+D“ reingeritzt, inmitten eines schlauchbootförmigen Herzens, dann aber wieder wutentbrannt durchgestrichen. Es könnte aber auch AFD heißen. Ob die beiden sich wohl auch schon über Klimawandel unterhalten haben? Mein eigentlicher Sitznachbar – wenn er einmal nicht krank ist – nickt nur. Ich kenn ihn gut genug, um zu wissen, dass es nichts bedeutet. Genauso könnte es aber auch alles bedeuten. Endlich nimmt der Greis die Finger vom Mikro. Ob er noch redet oder nicht kann ich nur an seinen Lippen ablesen. Vorerst scheint er fertig zu sein. Nach einer so langen Show könnte aber selbst Freddie Mercury nicht auf manische Zugabe-Rufe aus dem Publikum zählen. Nur mein Trommelfell kreischt. Nichtsdestotrotz deutet er mit einer einladenden Geste in die erste Reihe – nicht ohne dabei sein jugendliches Lächeln tanzen zu lassen – wo sich daraufhin zwei blondierte Damen erheben, die sich wohl zum Ziel gesetzt haben, ihr Gewicht auf das ihrer unförmigen Baumel-im-Öhrchen-Dinger zu reduzieren. Notfalls auch das Gewicht ihrer unförmigen Baumel-im-Öhrchen-Dinger auf ihr eigenes zu maximieren. Die eine ist jung. Ich mag sie. Die andere nicht so sehr… Wie eine sorgsam gepflegte Thujenhecke reihen sich die drei Ehrengäste der Veranstaltung auf der Tribüne auf. Den Gärtner möchte ich nicht kennenlernen. Die junge hat ihr eigenes Mikro. Verständlicherweise. Ob nun Freddie Mercury oder greiser Missionar, der Schweiß muss unerträglich sein. Nachdem sie ihre Glückseligkeit darüber kundgetan hat, Leuten wie mir zu ihren ach so kulturell wertvollen Leistungen gratulieren zu dürfen, stimmt sie ein wässriges Loblied für all jene an, die… naja, durch ihre pure Teilnahme ebenfalls den Sieg erringen. Sie ist nervig. Ich richte meinen Rücken gerade. Ich mag sie trotzdem. Eine glatte neun. Der tosende Applaus muss wohl auch meine Deutschlehrerin geweckt haben. Beschämt beginnt sie ebenfalls eifrig zu klatschen. Ich halte mich vornehm zurück. „Bin ich eingeschlafen?“, flüstert sie zu mir herüber. „Sie haben nur so getan“, sag ich. Verdutzt blickt sie wieder nach vorne. Ich blicke aus dem Fenster. Der Spatz hält inne. Starrt mir in die Augen. In denen sich seine Augen spiegeln, in denen sich meine Augen spiegeln, in denen sich seine Augen, in denen sich meine, in denen sich, in denen, in, in, in. Meine Augen sind das Einzige, das er nicht sieht. Ich frag ihn, wieso ich hier bin. Er fragt mich, wieso ich nicht hier bin. Ich sag ihm, ich weiß es nicht. Da grinst er und fliegt davon. Ein Stoß gegen meine Schulter. „Du wurdest aufgerufen!“ 2. Person, Singular, Präteritum, Passiv. Ich lache, dann steh ich auf. Reihe 10 Applaus. Reihe 9 Reihe 8 Aber irgendwie… Reihe 7 Reihe 6 …maschinell. Reihe 5 Das Lächeln… Reihe 4 …zu weiß. Reihe 3 Reihe 2 Meine Deutschlehrerin trällert am lautesten. Reihe 1 Nein. Nein? Nein. Ich schüttle Hände, bedanke mich, nicke freundlich, nehme ehrfürchtig meine Urkunde entgegen. Und ein kleines Kuvert. Klitzeklein. 500€ in bar. Am lautesten trällert der Spatz. Die zweite blonde Dame greift zum Mikro, um die Feier endlich auch mit ihrem Eitel zu bekleckern. Der Spatz? Sein Lächeln ist echt, sein Klatschen ist wohlwollend. „Zukunft bleibt“, beginnt sie feierlich. Ich nehm ihr das Mikro aus der Hand. Steck ihr stattdessen die wertlose Urkunde hin. Die 500€ behalte ich. „Die Zukunft mag bleiben“, sag ich. „Aber ich geh.“
weiterlesenMarlene Schweighofer
Wir reisen viele Jahre zurück in ein einsam gelegenes und tief verschneites Dorf am Rande des Nordpols. Die umliegenden Gewässer sind unter einer dicken Eisschicht verborgen und die dichten, dunklen Wälder halten nur schwer der nie schwindenden Schneeschicht stand. Alles ist ruhig, nichts trübt die Idylle, die Natur lebt stumm im Einklang mit den Menschen. Früh, noch bevor die ersten Sonnenstrahlen erscheinen, erwachte die Dorfälteste Hedda in ihrer Hütte. Sie ist zwar die Älteste im Dorf, doch ihre Mitmenschen mieden ihre Nähe, sie hielten sie für verrückt und sagten ihr Zauberei nach. Dadurch war Hedda gezwungen, alleine zu überleben. Bis jetzt hatte sie das Alleinsein nie gestört, Hedda war gerne für sich, denn an dem was die Dorfbewohner über sie sagten, war nicht alles falsch. In dieser Nacht fiel es ihr jedoch besonders schwer aufzustehen, aber liegen zu bleiben war keine Option, denn sie brauchte neuen Fisch um über die Runden zu kommen. Fisch war ein wichtiger Bestandteil ihres Essensvorrats, der nun fast ganz aufgebraucht war. Außerdem wollte sie schon seit langem einen neuen Zauberspruch ausprobieren, wozu ihr bis jetzt die Hauptkomponente fehlte. Dies verschaffte Hedda neue Motivation, denn sie hoffte heute auf diese zu stoßen. Also zog sie sich warm an und kramte alle Gegenstände zusammen, die sie zum Eisfischen benötigte. Sie war schon fast am See angekommen, als sie eine Wölbung in der Ferne ausmachte. Schnell, aber auf jeden Schritt bedacht, ging sie weiter. Es war, wie erhofft ein liegender Eisbär. Nun musste die Älteste vorsichtig vorgehen, wenn der Bär noch lebte, dann war sie in äußerster Gefahr, eine Konfrontation mit diesem würde sie nicht überleben. Also setzte sich Hedda in den Schnee und beobachtete, ob sich sein Bauch hob und senkte. Nach ein paar Augenblicken hatte sie dies ausgeschlossen und näherte sich langsam dem wilden Tier. Auf so eine Chance hatte sie gewartet. Vor einigen Wochen erfand die Dorfälteste einen neuen Zauberspruch, der ihr die Zukunft zeigen soll und für diesen war ein großes Raubtier essenziell. Also kniete sie sich vor das Tier und begann zu sprechen. Augenblicklich wurde Hedda schwarz vor Augen und eine Vision begann sich abzuspielen. Sie kniete am gleichen Ort wie in der Gegenwart, das erkannte sie an dem See, der vor ihr lag. Aber wo gerade noch Schnee unter ihren Füßen war, sprießte nun grünes Graß empor, welches teilweise durch hässliche Schlammfurchen gespalten war. Hedda wunderte sich darüber, woher diese nur stammen konnten. Als sie weiter weg einen Eisbären sah, wurde ihr Herz ganz schwer, das Tier war ausgehungert bis auf die Knochen und wühlte in irgendeinem bunten, leichten Gegenstand, augenscheinlich auf der Suche nach Essen. Sie zwang sich wegzuschauen und richtete ihren Blick auf den See, er war nicht mehr von Eis bedeckt und auch sonst war jegliche Kälte oder Schnee aus der Landschaft gewichen. Nun ging sie so schnell es ging zu ihrem Dorf, doch auch dort empfing sie keine Erleichterung. Da wo früher Häuser standen, waren nur mehr Ruinen übrig, weil der Wasserstand des naheliegenden Meeres so hoch gestiegen war, dass das Bewohnen der Hütten unmöglich war. Das Letzte, das Hedda erblickte, bevor sie wieder in der Gegenwart erwachte, war ein kleines Gewächs mit gelbem Ende, welches sie noch nie zuvor gesehen hatte. Dieses Detail war das einzig Schöne, das sie in der Zukunft gesehen hatte. Schwer erschüttert strich Hedda dem Eisbären über das Fell und wusste tief im Inneren, dass sie nichts tun konnte, was die Lage verbessern könnte. Denn die Zukunft bleibt. Von jeglicher Energie und Motivation verlassen, legte sie sich neben den toten Eisbären und schloss die Augen. Kurze Zeit später waren Heddas Hände so kalt wie Schnee und gemeinsam lagen sie in der weißen Welt. Etliche Jahre später bahnte sich genau an der Stelle, an der Hedda und der Eisbär gelegen hatten, eine gelbe Blume den Weg ins Freie.
weiterlesenHannah Pachler-Sattler
12.102 handgeschriebene Wörter. 12 Briefe hab ich dir geschrieben, in ein schönes Kuvert gepackt, mit Absender und Empfänger beschriftet, und sogar Briefmarken ausm Mittelalter von meiner Oma gestanzt. Die Briefe baden immer noch in Staub unter meinem Bett. Ich frag mich echt oft, ob du sie gelesen hättest. Immer wieder war ich kurz davor sie abzuschicken, aber dann hab ich mir selbst eine Realititätswatschn verpasst, wie meine Mama zu pflegen sagt. Hat geholfen. Sie hat gesagt ich solle meine Energie nicht mehr an so einen Trottl verschwenden. Recht hattest du, danke Mami. Manchmal haben die Eltern dann doch recht. Ich hab so viel durchgemacht wegen dir. Hat sich angefühlt wie verbrennen am lebendigen Leib. Schlimmer. Wie wenn man in Clash-Royal verliert. Essen, schlafen, reden, denken, alle anderen kognitiven und körperlichen Fähigkeiten - futsch. Lang war ich dir böse. Bissl grantig bin ich immer noch. Bis du deppat, ich wollt dir am liebsten dein scheiß MacBook nachwerfen, und dir mit deinem sau lächerlichen Mikrofonständer-Setup eine drübertscheppern. Oder ganz klassisch ein bickiges Getränk ins Gesicht schütten, und sexy-hüftenschwingend wegstolzieren. Aber meine Schwester meinte ein gebrochenes Herz reicht, da brauch ich ned auch noch eine Vorstrafe aufgrund Körperverletzung auf meinen Nacken. Also hab ich mich entschlossen von Reife zu zeigen, und dich bei 47 Werbe-Spam-E-Mails anzumelden, unter anderem eine Helene Fischer Fan-Seite, und an 13 Orten deinen Namen mit dem nachfolgenden Text „du stinkst!“ zu verewigen. Was du abgezogen hast, war echt „unta olla Sau“, wie meine Oma zu pflegen sagt. Hat auch geholfen. Danke Omi. Dein ganzes Gelaber von „Ich liebe dich – ich hasse dich – nein ich liebe dich doch - blablabla“ hat mich so auseinandergenommen. Bodenlose Aktion von dir. Wenigstens relate ich jetzt zum Lied „Hot and Cold“ von Katy Perry. Slay. Dass du dann gleich eine Woche nach der gottlosesten Schlussmachaktion ever eine Neue am Klo „beglückt“ hast, (obwohl bei deinen Künsten war sie wahrscheinlich nicht so glücklich), war auch nicht die feine englische Art. Dann hab ich wegen dir mitten am Gang fett geweint, (mehrmals) und mein Mathelehrer hat mich gefragt, ob alles in Ordnung ist. Grüße gehen raus, Mario – Sie sind der Beste! Mittlerweile ist fast ein ganzes Jahr vergangen und mir geht’s besser. Du bist mein Arschengel. Also der Arsch, den ich gebraucht habe, um ein Engel zu werden. Also danke, dass du so ein triebgesteuerter (darf man schwanzgesteuerter sagen?) Teenie-Junge warst/bist und mir damals mein Herz gebrochen hast. Denn jetzt bin ich selbstbewusster, stärker und glücklicher. Ich weiß, was ich will, und was nicht, und wo mein Wert liegt. Ich hab damals echt gedacht ich muss sterben. Aber das bin ich nicht. Du warst weg, aber was geblieben ist, war die Zukunft, für die ich heute nicht dankbarer sein könnte. 12.569 Wörter, 13 Briefe.
weiterlesenAntonio Zlatunic
Schon mal einen Tee getrunken, der nach „Heute wird ein guter Tag“ schmeckt? Genauso fühlte es sich an, als der Wecker die Schallmauer in meinem Zimmer durchbrochen hat. Es sind diese Momente, in denen man plötzlich fern von der Realität ist, noch bevor die Träume sich endgültig verziehen. Doch heute… heute war anders. Etwas Großes lag in der Luft, etwas, das die Routine meiner Tage komplett auf den Kopf stellen könnte. Während ich mich aus dem Bett kämpfte, schlugen die Hooligans vom FC Nervosität und SK-Müdigkeit auf mich ein. Was, wenn heute tatsächlich nicht nur irgendein Tag war? Als ich aufstand, machte sich ein dumpfer Druck in meinem Kopf breit und brachte die Welt um mich herum ins Wanken. Mein Körper fühlte sich an, als wäre er betonschwer, meine Beine wackelten unter mir wie Gummi. Jeder Schritt brachte mich ins Stolpern, als ob der Boden unter mir plötzlich weich geworden wäre. Es war, als würde die Luft dicker, zäher – selbst das Atmen fiel mir schwer. Ich griff nach der Wand, aber selbst die schien sich wegzudrehen. Mein Blick verschwamm und mein Magen drehte sich, während ich versuchte, mich zu fangen. Alles fühlte sich... einfach falsch an. „TOBI, DAS ESSEN IST FERTIG!“ Die Stimme meines Bruders dröhnte in meinen Ohren wie die Pfeife eines Offiziers und erlöste mich aus meiner Trance. Der Geruch von frisch gebratenen Kartoffeln, gepaart mit dem Duft nach Wienerschnitzel zog mich zu Tisch. Die Zitronen könnten nicht frischer sein, der Saft tropfte nur so aus ihnen heraus. Die Preiselbeere war vorzüglich, verfeinert mit Vanille. Das Tischtuch, wie aus einem Palast aus 1001 Nacht mit den verschiedensten Stickereien und Symbolen, die keiner so richtig verstehen konnte. „Mahlzeit!“ Das Fleisch war zart wie das Fell einer Katze und die Panade so knusprig wie damals bei Oma. Zum Abschluss passte mir mein Bruder ein Glückskeks zu. Er ist wie ein Talisman für mich, in seiner Präsenz scheinen die Dinge einfach besser zu laufen. „過去過去,現在吹走,但未來仍然存在,它只是等待第一步“ Oops, falsche Seite, jetzt aber: „Die Vergangenheit vergeht, die Gegenwart verweht, doch die Zukunft bleibt, sie wartet nur auf den ersten Schritt“ Ich schenkte dem Glückskeks keine weitere Aufmerksamkeit und begab mich auf den Weg zur Bib. Dort angekommen machte ich mich auf die Suche nach dem Buch „Sorge dich nicht um morgen, denn der Morgen sorgt für sich selbst“ Da war es. Doch da war auch etwas anderes. Etwas, was ich noch nie zuvor gesehen hatte. Sie stand dort, vertieft in ein Buch. Ihre brünetten Haare schmiegten sich sanft über die Schultern und die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen, schienen extra für sie da zu sein, tanzten auf ihrem Haar und warfen einen goldenen Glanz über ihr Gesicht, während ihre Augen, so lebhaft und neugierig, die Worte zu ergreifen schienen. Es war nicht nur ihr Aussehen, das mich in den Bann zog, sondern die Art, wie sie in ihrer eigenen Welt schwebte, als ob die Zeit für sie stillstand. Der Gedanke sie anzusprechen, ließ mein Herz schneller schlagen – würde sie mir ein Lächeln schenken? Beschwingt verließ ich die Bib und draußen umfing mich der Geruch von frisch gemähtem Gras. Kindheitserinnerungen tobten unterkontrolliert durch meinen Kopf, fast so wie mein Bruder und ich damals im Garten der Nachbarn. Erschöpft zuhause angekommen, kuschelte ich mich ins Bett. Die Müdigkeit umhüllte meine Seele wie eine tröstliche Umarmung. Abrupt überkam mich ein Sturm von Erinnerungen. Verlust und ich waren wie Bonnie & Clyde gewesen und die Einsamkeit hatte mich gefangen gehalten wie ein Gefängnis in Sibirien. Doch heute, heute fand ich eine Rose in dieser eisigen Tundra der Emotionen. Dieses Mädchen strahlte eine Wärme aus, nach der ich mich seit Jahrzehnten gesehnt hatte. Ihr Blick, der mit dem sanften Wind zu mir herüberwehte, war wie ein Lichtstrahl, der durch die dichten Wolken brach. In ihrem Lächeln lag eine Unbeschwertheit, die mich an all die kleinen Freuden erinnerte, die das Leben zu bieten hatte.
weiterlesenKatharina Huber
Beep. Ich schaue von einem Berg Papieren hoch und fixiere gespannt das kleine eiserne Gerät am anderen Ende des Tisches. Doch wie auch in den letzten sechsunddreißig Stunden, war dies das Einzige, das laut meinen Aufzeichnungen alle (dreihundertundeinundneunzig) dreihundertundzweiundneunzig Sekunden passiert. Ich wende mich wieder der Zeitschrift aus dem Jahre 1901 zu, die ich in meiner Hand halte. „DER WELTKURIER“ steht mit großen, dicken Buchstaben auf der oberen Hälfte des Deckblattes. Darunter befindet sich ein schwarz-weißes Bild von einem scheußlichen Mann mit buschigem Bart und einem viel zu kleinem Hut auf dem Kopf. Beep. Es ist nun neunundzwanzig Monate her, seitdem der Mann uns die Taschen leerte. Er war in allen Zeitungen auf der ganzen Welt und genoss den Ruhm seines Lebens. Ganze drei Monate hielt das ganze Spektakel an, bis sich herausstellte, dass dieser Mann ein (Hurensohn) Schwindler war und nicht wirklich eine Zeitmaschine erfunden hatte. Vor genau sechzehn Monaten, siebenundzwanzig Tagen, neun Stunden und vierundfünfzig Minuten wurde er wegen seiner Tat zu unserem Erstaunen und unserer Befriedigung exekutiert. (Dieses Schicksal will ich unbedingt vermeiden. Nicht, dass ICH ein Schwindler wäre.)Beep. Wie würden wohl die Menschen in der Zukunft andere bestrafen? Würden sie sie an ein Gerät schließen, das die Erinnerungen und die Persönlichkeit löscht und grausame Schmerzen bereitet, bis nur noch eine leere Hülle besteht? Würden sie sie ins Weltall schießen und zusehen, wie sie ersticken? Würden sie sie zu Gegenständen mutieren, um ihnen so die Freiheit zu rauben? Wären Menschen zu so etwas fähig in einer Welt, in der es wahrscheinlich fliegende Städte, Roboter-Menschen und permanente Zugänge zu Paralleluniversen gibt? Beep. Ich seufze. Ich bin so nah dran, (im Gold zu baden) die Menschheit zu verändern. Beep. Keine dreihundertundzweiundneunzig Sekunden. Beep. Ich haste den Tisch entlang und hebe die Zeitmaschine hoch. Beep. Stille. OMG. Das Einzige, was meine Sinne vernehmen, ist mein eigener Atem. Ich trete einen Schritt nach vorn und stoße an etwas Hartes. Es ist eine kleine schwarze Tür, auf der, nach meiner Berührung, leuchtend rote Zahlen erschienen sind, die das Datum 11.05.1916 bilden. Sachte stoße ich die Tür auf und trete beinahe auf das Gesicht eines mageren Kindes. Bevor ich mich abwenden kann, greift es nach meinem Bein und sieht mich bettelnd an. Es bricht mir beinahe das Herz, doch in dieser Straße liegt es nicht allein im Sterben. Voller Schuldgefühle (und weil mich dieses konstante Schluchzen nervös macht), wende ich mich ab und gehe wieder durch die Tür. Zitternd taste ich mich am Boden entlang, bis ich zu einer anderen Tür mit dem Datum 28.07.1943 gelange. Ganz vorsichtig öffne ich auch diese, doch hinter dieser Tür ist es leise. (Viel zu leise). Die Luft ist grau und meine Augen brennen, als ich um mich blicke. Die Umgebung ist dieselbe. Hamburg, die Stadt, die ich kenne und liebe, sieht jedoch kein bisschen so aus wie davor. Das Rathaus und alle restlichen Gebäude (inklusive meiner Wohnung) liegen in Trümmern. Auf den Straßen liegen überall leblose Körper. (Auch solche, die man nicht einmal mehr als Körper bezeichnen kann.) Das ist mir nun doch zu viel und ich ziehe mich zurück. Ich will nur mehr in mein stickiges Arbeitszimmer zurück. Erschöpft und aufgewühlt schließe ich die Augen und murmle immer wieder die Worte „Zukunft bleibt Zukunft. Vergangenheit bleibt Vergangenheit. Jetzt bleibt Jetzt.“ vor mich hin. Als ich zu meiner Erleichterung den bekannten Geruch meines (außerordentlich schlechten Lebensstils) Zimmers rieche, öffne ich langsam wieder meine Augen. Was auch immer ich da gerade gesehen habe, (kann) darf nicht passieren. Mit einem Mal realisiere ich, dass die Zeitmaschine, die ich immer noch festhalte, die größte Waffe ist, die es je gab. (Nicht, um zu prahlen.) Ich muss sie zerstören, bevor sie in die falschen Hände gerät. Doch wie, um Himmels Willen, soll ich jetzt die Zukunft retten…
weiterlesenTamara Mayr-Veselinović
Gedanken einer 13-Jährigen: Immer wird gesagt, dass die Zukunft schlechter und schlechter wird. Jeder weiß, wie es um die Zukunft steht; nur manche, die reden sich ein, dass das doch alles nicht so schlimm sein werde. Aber die Zukunft bleibt nicht schlecht, nein, die Zukunft wird immer schlechter. Tagelang schon höre ich von allerhand Ereignissen, die das Leben nur schwer machen. Wochenlang sehe ich, wie es Menschen immer schlechter geht und der Großteil davon hätte wirklich etwas Besseres verdient. Monatelang sehe ich Idioten, die wahnsinnige Behauptungen aufstellen und das Schlimmste dabei ist, dass so viele Menschen ihnen das auch noch glauben. Seit Jahren nun aber ändert sich nichts daran. Wieso wird nicht mehr getan? Wieso sagen so viele, dass die Zukunft bleiben wird, so wie sie ist? Immer werden die Menschen, die etwas für eine bessere, eine gute Zukunft machen wollen, nicht ernst genommen, denn meistens sind es junge Menschen. Oder aber sie werden als Träumerinnen und Träumer abgetan. Was wird uns die Zukunft bringen? Wird sie hoffnungsfroh sein und uns wieder jede Menge Zuversicht bringen? Das kann doch alles gar nicht sein. Es kann doch nicht wirklich wahr sein, dass so vielen Menschen egal ist, was in der Zukunft passiert. Aber die Zukunft bleibt. Es wird immer eine neue Zukunft geben. Die Zukunft, die bleibt, gegen sie kann man nichts machen und für sie schon gar nicht. Einfach zu ihr gelangen muss man, einfach abwarten soll man. Zukunftsprobleme, um die sollen sich die Menschen der Zukunft kümmern, denn was bitte schön wäre jetzt zu tun? Man soll einfach warten, so schlimm wird es am Ende ja eh nicht sein. Das kann doch nicht ernst gemeint sein! Man muss etwas tun, ja, auch wenn man denkt, es bringt nichts. Denn es bringt immer etwas. Schon die kleinsten Taten können zu den größten zählen. Viel zu viele Menschen sind der Ansicht, dass sie allein nichts ausrichten können. Aber wenn alle diese Menschen an sich glauben und handeln würden, dann wäre schon einiges getan. In den eigenen Bereichen der Möglichkeiten solle man bleiben, dies wird ja immer gesagt. Nur was definiert den Bereich der eigenen Möglichkeiten? Für jeden und jede ist der Bereich der eigenen Möglichkeiten unterschiedlich. Deswegen sollten einfach alle ihre Möglichkeiten ausschöpfen, ganz egal, wie weit der jeweilige Bereich geht. Ja, die Zukunft bleibt, sie geht nicht weg. Die Frage nur ist, wird die Zukunft besser oder schlechter? Werden die Menschen endlich alle zusammen etwas für die Zukunft machen oder werden sie sich weiterhin nur auf ihre Unterschiede konzentrieren? Alle Menschen sind genetisch zu 99 Prozent gleich. Wieso also konzentrieren sich alle auf das eine Prozent, das anders ist? Zukunft bleibt. Man soll, nein, man muss sich darum bemühen, dass sie gut wird, damit die nächsten Generationen auch noch etwas von ihr haben. Denn ja, Zukunft bleibt.
weiterlesenAnna-Lena Maier
Es war das Ende seines Lebens. Er wusste nicht, wie lange es noch dauern würde, bis seine Kraft ihn endgültig verließ oder wie lange er es noch schaffte, die Hand seiner Frau an seiner Brust zu halten. Ihre Hand war so warm und der gemeinsame silberne Ehering hing matt an ihrem Fingerknöchel herab. Warum war ihm nie aufgefallen, wie zerbrechlich sie doch war? Sie hatte durch seine Diagnose abgenommen und doch glitzerten ihre Augen noch genauso wie vor 20 Jahren. Für ein paar Sekunden wollte er die Kraft aufbringen, seine Augen zu öffnen, um die ihren ein letztes Mal zu bewundern. Während sie begann, sich zu verabschieden und ihm etwas zu erzählen, öffnete er sein linkes Auge ein wenig. Ihre Stimme klang so fern, wie eine Erinnerung, doch noch war er nicht tot und so wollte er ihren Worten ein letztes Mal lauschen. „Weißt du noch, damals?“ Ihre Stimme bebte beim Sprechen, vielleicht weil sie sich unsicher war, ob er ihr noch folgen konnte, vielleicht aber auch, weil sie weinte. „Ich war allein am Strand mit meinen Eltern. Während sie am Wasser waren, lag ich lieber oben in meinem Sessel und las mein Buch. Für mich war es hier zu kalt und für dich auch. Du beobachtetest mich mit diesem ernsten Blick, genauso wie jetzt, wenn ich etwas an mir kritisiere.“ Ein lautes Schluchzen brach ihre Worte ab und gab ihm Zeit, ihre Sätze zu verinnerlichen. „Nun, du starrtest mich an, und da fiel mir auf, dass wir die gleiche Novelle lasen. Aber du warst damals noch lange nicht so überzeugt von der Geschichte wie heute, das sah ich in deinem Blick.“ Hätte er die Kraft gehabt zu lachen, hätte er sie ausgelacht und gesagt, dass sie wohl verrückt wäre. Doch dann dachte er darüber nach und spürte, wie gut sie ihn kannte. Bevor er sie getroffen hatte, hätte er nie an eine Beziehung geglaubt, die länger als die Zukunft währen könnte. Doch jetzt tat er es. „Ich war damals genauso schüchtern und dich anzusprechen war für mich damals so schwer, wie es heute ist, dir diese – unsere – Geschichte zu erzählen.“ Er hatte ihr Gesicht beim Sprechen bewundert, doch nun blickte er auf ihre und seine Hände hinab, die eng ineinander verschlungen waren. Eine Träne tropfte auf sein Handgelenk und erschütterte ihn. Er wollte sie umarmen, sie beschützen und ihr – wenn auch zum tausendsten Mal – sagen, wie stark sie sei und wie sehr er sie liebte. Aber er konnte nicht. Sein Auge wurde immer schwerer, und langsam schloss es sich. „Wir kamen ins Gespräch, und ich weiß noch genau, wie du mir erklärtest, warum das Buch völlig kitschig sei und völlig übertrieben. Wie sollten zwei Menschen sich so lieben, dass sie selbst gemeinsam die Zukunft besiegen könnten?“ Ihre Stimme klang nun wie aus weiter Ferne, und es machte ihn traurig, dass sie glaubte, er habe nie daran geglaubt, dass zwei Menschen – so wie sie und er – länger als die Zukunft bleiben könnten. Nun war er reifer als vor 20 Jahren. Er würde ihre Hand auch nach seinem Dahinscheiden immer wieder nehmen, mit ihr am Strand entlanggehen und sie niemals loslassen. Plötzlich stockten seine Gedanken. Warum hatte sie aufgehört zu reden? Er musste erfahren, was sie ihm noch sagen wollte. Mit aller verbliebenen Kraft öffnete er ein letztes Mal sein rechtes Auge und blinzelte verwirrt. „Ich weiß nicht, ob du mich noch hörst, aber ich glaube – nein, ich bin überzeugt –, dass wir beide wissen, dass wir über die Zukunft hinaus bleiben werden. Egal wo, egal wann. Die Erde war uns sowieso immer zu klein. Ich denke, die Zukunft ist ein angemessener Ort für uns. Ich liebe dich.“ Unter ihren beiden Händen begann sein Herz ein letztes Mal wild zu pochen, wie bei ihrer ersten Begegnung. Bis die Alarme losgingen und ihnen nur noch die Zukunft blieb.
weiterlesenAnne-Catherine Daniell
Figuren JAEL, Fleischermeisterstochter SARA, Fleischermeistersfrau MENCHEM, Fleischermeister CHANA, Fleischermeisterstochter MORDECHAI, Rabbiner TZVI, Fleischer SCHTETLRAND, WALD. (JAEL und CHANA pflücken Beeren und legen diese in Körbe, die sie auf der Hüfte gestützt tragen.) JAEL: Diese Arbeit kann ich nicht ausstehen. Mir tut der Rücken weh. CHANA: Sei nicht so. Bedanke dich lieber dafür, dass wir überhaupt etwas zu essen haben. Wird ein bitterer Winter werden, heuer. Der Herr hat uns jetzt gesegnet. Wir sollten das ernten, was Er uns gegeben hat. (JAEL schweigt.) CHANA: Hast du dich wegen Tzvi entschieden? (JAEL lächelt, gedankenverloren.) JAEL: Ach, was. Er ist ein Angeber. Was soll ich da groß entscheiden? (CHANA seufzt, wissend.) CHANA: Aber er ist ein guter Mann. Mama und Papa haben ihn schließlich ausgesucht. Sie kennen dich ja. (JAEL zu sich selbst, murmelnd.) JAEL: Er ist gut. Ja, das stimmt. (JAEL wischt ihre Hand an ihrem Rock ab.) JAEL: Saftige Beeren dieses Jahr. Das ist gut. CHANA: Nächstes Jahr ein warmer Sommer, dann. Eine Sommerhochzeit für dich. Schön, oder? JAEL: Sommerhochzeit, Frühlingskinder. Ja, das wäre schön. Sie können dann hier im Feld spielen. JESCHIWA, SCHTETLZENTRUM. (MENACHEM und MORDECHAI über einen Tisch gebeugt.) MENACHEM: Rebbe, ich sorge mich. Stimmt es, was man hört? (MORDECHAI reibt seinen Bart.) MORDECHAI: Wir sind als Volk schon immer verfolgt worden. MENACHEM: Diesmal ist es anders. Tzvi hat für mich letztens eine Lieferung in der Stadt geholt. Was sie erzählt haben… unsere Menschen leiden, Rebbe. Unermessliches Leid. Und sie rücken weiter in den Osten. MORDECHAI: Tzvi ist ein guter Mann für deine Tochter. Aber er redet mir etwas zu viel. MENACHEM: Weich‘ nicht aus. (Pause.) Er redet viel, um tapfer zu wirken. Aber nicht so. Niemals so. (MORDECHAI schweigt.) MENACHEM: Ich will nicht da sein müssen, wenn sie uns erreichen. (Betretene Stille. Hastige Schritte sind zu hören. MORDECHAI und MENACHEM schrecken auf, laufen zur Tür.) MORDECHAI: Mein Junge, was ist geschehen? (TZVI lehnt sich an einen Baum, übergibt sich lautstark. Er zittert am ganzen Körper.) TZVI: Sie kommen. Ich habe sie gesehen, Gewehre in der Hand. Wir können- müssen- sollen- (TZVI übergibt sich erneut, Schweißtropfen rinnen seinen fahlen Nacken entlang. Er wischt sich mit dem Handrücken den Mund ab, holt tief Luft.) MORDECHAI: Wo sind sie? TZVI: Sie wollen zuerst in den Westen. Sind mehr, die dort wohnen. MENACHEM: Dann müssen wir weg. MORDECHAI: Ja. Das müssen wir wohl. (Die drei Männer schweigen, Bäume rascheln im Wind.) HAUS DER FLEISCHERMEISTERSFAMILIE. (CHANA, JAEL und SARA sitzen betreten am Tisch. MENACHEM lehnt am Herd.) CHANA: Weg? MENACHEM: Ja. CHANA: Jetzt? SARA: Selbstverständlich. JAEL: Das ist nicht gerecht. MENACHEM: Wärest du lieber tot? (Stille. JAEL schluckt.) MENACHEM: Ein menschenleeres Haus ist noch immer besser als ein leichenbefüllter Graben. (CHANA beginnt zu weinen. SARA berührt sanft ihre Schulter. JAEL sitzt, erstarrt.) MENACHEM: Wir räumen das Haus. (als wolle er sich selbst überzeugen) Zu Sonnenuntergang wird es so sein, als hätten wir nie hier gewohnt. SCHTETLTOR, DÄMMERUNG. (BÜRGER stehen versammelt, beladen ihre Karren, verabschieden sich voneinander. Ein Kleinkind weint. JAEL lehnt sich an TZVI. CHANA, SARA und MENACHEM beladen einen Karren.) CHANA: Bis bald, Schwester. JAEL (mit brechender Stimme): Bis bald. (CHANA und SARA besteigen den Karren.) SARA: Gib‘ Acht. (JAEL beginnt zu schluchzen, zuerst leise, dann immer lauter, wie ein verletztes Tier.) JAEL: Warum? Was ist mit unseren Leben? Was haben wir getan? MENACHEM (leise): Der Herr hat es für uns so vorgesehen. JAEL: Weggenommen hat er mir alles. Was bleibt mir? Mein zukünftiger Mann, ein paar Lumpen und Töpfe. Sonst nichts. Nichts bleibt mir. (MENACHEM nimmt JAEL in den Arm.) MENACHEM: Die Zukunft bleibt dir. Die Zukunft und die Hoffnung. Das ist alles, was bleibt. (JAEL weint in den Armen ihres Vaters, die ersten Karren ziehen davon. Über den Bäumen geht die Sonne unter.)
weiterlesenYiannis Pagger
Der dreckige Peter nahm seine silbrige Gabel in den nassen Mund, und kaute mit seinen kalkigen Zähnen darauf herum, bis das kalte Metall verbogen war, wie eine zeitgenössische Skulptur. Er nahm sie dann wieder heraus, und kratzte mit seinen staubigen brüchigen Fingernägeln ein buntes schönes Muster auf den langen harten Stiel. Dann warf er die schön künstlerisch verzierte Gabel aus dem grünen weit offenen Fenster, auf den großen vollgeparkten herbstlichen Parkplatz vor dem alten schmucken gelbgefärbten Haus. Sodann stellte sich der müde stinkende zufriedene hungrige Peter vor den durchsichtigen dreckigen fingerabgedruckten verschmierten Spiegel, in dem ihm sein müde lächelndes stinkendes großes Gesicht entgegenschien. Sein linkes blutunterlaufenes salziges verträntes nettes Auge zuckte höhnisch. Er trank dann genüsslich ein gefundenes altes lang gelagertes durchsichtiges kaltes schönes Glas Wasser, und kackte sich dabei aus Versehen in seine blutige ungewaschene fasrige ausgehöhlte lockere stinkende Hose. Sein zufriedenes müdes stinkendes schiefes selbstgefälliges schönes nettes Lächeln erlosch, und er ging zum angekackten weit entfernten weißen harten kalten ungemütlichen zerbrochenen Klo, zog dann die lockere blutige ungewaschene fasrige ausgehöhlte stinkende angekackte Hose seinen behaarten verdreckten verschwitzten übel riechenden fetten glatten porigen faltigen Arsch hinab, und ließ die braune lange kontinuierliche ölige nasse ungemütliche kranke stinkende Scheißwurst in die leere hallende weiße angeschissene schöne entlastende klobrillenumrahmte oft genutzte Kloschüssel fallen. Er schaute aus dem kleinen engen vergitterten luftigen verrosteten dünnen verstaubten reich verzierten offenen Klofenster hinunter auf den weiten vollgeparkten herbstlichen durchnässten windigen lauten grauen asphaltierten dreckigen Parkplatz. Dort lag die Gabel. Der Peter nahm seine Gabel in den Mund, und kaute mit seinen Zähnen darauf herum, bis das Metall verbogen war, wie eine zeitgenössische Skulptur. Er nahm sie dann wieder heraus, und kratzte mit seinen Fingernägeln ein Muster auf den Stiel. Dann warf er die Gabel aus dem Fenster, auf den Parkplatz vor dem Haus. Sodann stellte sich der Peter vor den Spiegel, in dem ihm sein Gesicht entgegenschien. Sein Auge zuckte. Er trank dann genüsslich ein Glas Wasser, und kackte sich dabei aus Versehen in seine Hose. Sein Lächeln erlosch, und er ging zum Klo, zog dann die Hose seinen Arsch hinab, und ließ die Scheißwurst in die Kloschüssel fallen. Er schaute aus dem Klofenster hinunter auf den Parkplatz. Dort lag die Gabel.
weiterlesenNabila Aliyu
Die Morgenröte ist mein Wecker heute. Ich kann mich nicht rühren, will mich nicht rühren. Zwinge mein rechtes Bein, mein linkes Bein auf den Boden. Es kostet mir all meine Kraft, wo mach ich weiter? Mein Kopf ist leer. Mit kalten Füßen spaziere ich zum Balkon hinaus, kann meinen Atem schon sehen. Herbst? Winter. Ich nehme die Kälte auf. Die Röte des Himmels verzieht sich, ein leichter Sonnenschein. Wie ironisch. Ich lege mich mit meinem nackten Körper auf den Boden. Das Gesterne, es schwirrt in mir. Das Gesterne ist zwei Jahre her. Meine Geborgenheit, meine Unschuld, genau zwei Jahre her. Es wird immer gestern gewesen sein. Leichte Wolken bilden sich. Ein Wal. Oder doch eine Vase. Nein, definitiv ein Wal, er schwimmt davon. Ich wollte es nicht. Doch wehrte mich nicht. Rührte mich nicht. Schwach von mir.Der Boden ist kalt, die leichten Strahlen erwärmen mich doch. An dieser Wärme mangelt es mir seit Gesternem. Auch heute noch, meine Nase rötet. Meine Gliedmaßen sind taub. Sie hören nichts, spüren nichts. Wann dürfen sie wieder fühlen? Heute tut mir weh. Heute sitzt der Schmerz noch tiefer. Aber vielleicht morgen, morgen wird mir wärmer. Morgen, morgen ist alles das mir bleibt.
weiterlesenSarah Aldrian
Erinnere dich an dein Herz1…2…3, das ständig, im Takt aufschlagende Geräusch, erzeugt durch zarte Finger, die über eine Gitarrensaite fliegen. Eine konstante Bewegung. Hoffentlich für IMMER! Eine einzelne Melodie, die einen dunklen Dachboden mit herrlichem Klang erfüllt. Es ist Sommer. Es war Sommer. Alles war gut. Eine Stimme die einem das Gefühl gibt, nicht allein zu sein. Ein Lachen, wo das Herze zu springen beginnt und es nicht mehr aufhören will. Momente des Glücks wie man sie nicht oft hat. Stille, ein fragender Blick: »Was ist? Klingt es blöd?« »Nein.« »Was ist es dann?« Finger, die ausgestreckt werden, um liebevoll durch ihr langes braunes Haar zu fahren. Zögernd, dann ein leichtes Lächeln im Mundwinkel. »Du weißt gar nicht wie sehr ich dich liebe Mylady« Sie lächelt. Eine Hand die sich jetzt um die andere schlingt. »Ich hoffe, es bleibt für immer so!« Beide Personen lächeln. Beide Personen hoffen! Ein Telefonanruf… »Alex…ich kann nicht mehr. Es tut mir leid! Aber danke und schönen Abend noch!« „Holde Maid, wie weit wollt ihr gehen, wie viel überstehen bis euer Herze gar zerbricht in unendlich Teil“ Es kommt immer so, dass das Gehoffte vor den Augen vorbeizieht. Eine Person allein in sich zusammenbricht. Man glaubt zu wissen, dass man keinem mehr Vertrauen kann. Wie auch? Vertrau auf dein Herz, sagt der Kopf. Oder umgekehrt? »Lass uns einmal der gleichen Meinung sein! Du hast sie nicht verdient, du hast keinen verdient. Versuch es nur weiter und kassiere den „Loser Preis“ oder lass es lieber gleichbleiben! Vertrauen braucht man nicht! Liebe auch nicht! Mach einfach weiter wie bisher, mach keine große Sache draus!“ Langsam glaubt man sich. Es fangen die langen Tage. Es ist Herbst! Herbstanfang! Manche in deinem Umkreis schneiden sich die Haare ab, um zu zeigen, dass sie drüber hinweg sind! Aber mal ehrlich, wie dumm ist die Idee eigentlich. Rebellisch sein? Gut. Aber wenn man nicht hinweg ist? Was dann. „Ertrinke in der Tiefe deines Gewissens, versuche zu leben, rede mit anderen.“ Du weißt nicht, wie lange es dauert, bis du ihr Gesicht vergisst. Zwei Monate? Drei Jahre? Nie? Verdammt was, wenn nie. Sind wir dann für immer eine verdammte leere Hülle? Der erste Schnee ist gefallen. Eine Hand zieht den Schal um den Hals enger an sich. Die andere versucht sich in der Manteltasche zu wärmeren. Unten fahren Autos. Man ist das hoch. Aber wenigsten ist die Aussicht schön! »Zusammen?« Eine Stimme von hinten. Eine Person, die neben mich tritt. »Was?« »Ob wir zusammen springen wollen? Ich meine du wolltest doch gerade, oder?« Sie hält mir die Hand hin. »Was…warum?« »Warum nicht? Ich glaube das Tod alleine keinen Spaß macht. Also willst du WIRKLICH springen?« »Nein«, tonlos, machtlos, aber vor allem kraftlos. Sie zieht mich weg von einem unendlichen Abgrund. Ich kenn sie nicht! Aber jetzt geht mir auf, was ich fast gemacht hätte. Ich kann nicht mehr. Alles, was ich aufgestaut habe, bricht jetzt frei und ich weine mich in ihre Arme. Sie hält mich. Ruhig. Völlig cool damit, eine gerade getroffene, heulende Person im Arm zu halten. Mein Kopf will protestieren. Ich schalte ihn ab. Es ist Silvester. Sie sitzt neben mir und ich liege in ihren Armen. Es wird noch eine Weile dauern, bis sich Körper, Kopf und Herz wieder erholt haben. Ich kann ENDLICH warten. Sie sieht mich an, dann lächelt sie: »Zusammen?« Lächeln »Zusammen!«
weiterlesenJasmin Fuchs
Sie schreit. Ich sehe es an ihrem aufgerissenen Mund, in dem eigentlich ein Schnuller stecken sollte. Das Schreien selbst höre ich nicht. Nie. Meine Finger tasten nach dem Schnuller, der auf das Fotoalbum in meinem Schoß gefallen ist. Wind fegt über die weiß gestrichene Veranda, peitscht durch die Maisfelder dahinter. Dunkle Wolken haben sich vor die Sonne geschoben. Ich stecke ihr den Schnuller in den Mund. Wiege sie sanft im Arm, wippe mit dem hölzernen Schaukelstuhl. Summe eine Melodie, spüre die Vibration in der Kehle. Ob ihre winzigen Ohren sie wohl hören können? Die Ärzte gehen nicht davon aus. Nicht nach den Hörtests, die sie heute in der Klinik an ihr durchführten. Der Verdacht auf Taubheit bestand schon zuvor, doch heute hat sie nicht ein einziges Mal auf die Geräusche reagiert, die die Ärzte einspielten. Ein klarer Hinweis darauf, dass ich die Taubheit an sie vererbt habe. Ich betrachte ihre kleinen Augen, die mich verschlafen anblinzeln. Schlinge mir die schwere Wolldecke enger um den Leib. Meine Schuld. Wäre nicht ich ihre Mutter geworden, könnte sie den Wind und mein Summen hören. Wäre nicht ich ihre Mutter geworden, würden ihr noch Aussichten auf eine schöne Zukunft bleiben. Der salzige Geschmack von Tränen sickert auf meine Lippen. Mit steifen Fingern greife ich nach der Tasse Tee, die inzwischen kalt geworden ist. Blättere durch das Fotoalbum, das auf meinem Schoß ruht. Ein einsamer goldener Sonnenstrahl fällt auf das Bild vor mir. Auf die blauen LED-Lichter, die die hölzerne Tanzfläche umrahmen. Das Publikum ist abgedunkelt, ebenso wie die Juroren hinter dem Tisch mit dem blassen Tischtuch. Das Mikrofon der Moderatorin glitzert golden in der Dunkelheit, ebenso wie die Kronleuchter an der hohen Decke. Scheinwerferkegel tauchen die beiden Gestalten auf der Tanzfläche in mattes Licht. Ich erinnere mich an unsere Verbeugung zu Beginn. Daran, wie er meine Hand ergriff. Und der Tanz begann. Die Musik hörte ich nicht. Nie. Stattdessen orientierte ich mich an ihren Vibrationen im Boden. An zwei kräftigen und intensiven Schlägen – dem Bass. Sie strömten durch meinen gesamten Körper, als hätte die Tanzfläche einen Puls. Ich orientierte mich an den Lichtern, die bei jedem Schlag rot aufglühten. An seinen Berührungen – daran, wie er bei jedem Herzschlag des Basses meine Finger drückte. Mir so den Rhythmus der Musik signalisierte, während ich zwischen seine Füße trat. Mich von ihm führen ließ. Nach dem zweiten Schlag war das Vibrieren im Boden stets weicher geworden. Sanfter und gleichmäßiger. Es klang in meinen Füßen nach, während die LED-Lichter bläulich glommen und ich zur Pirouette ansetzte. Zwei Schläge. Rote Lichter. Schritte. Zarte Wellen. Blaue Lichter. Pirouette. So lange, bis das Publikum irgendwann erhellt wurde und ich in lautlos klatschende Hände blickte. Bis sich auch die restlichen Paare auf der Tanzfläche eingefunden hatten und die Moderatorin den Sieger des Wettbewerbs verkündete. Unsere Namen hörte ich nicht. Ich sah lediglich, wie die Lippen der Moderatorin sie formten. Erinnere mich daran, wie ich im nächsten Moment in seinen Armen lag. Wie er mich durch die Luft wirbelte, während goldener Konfettiregen auf uns einprasselte. Golden wie der Sonnenstrahl, der noch immer über das Bild tanzt. Ich lasse das Album sinken. Wir hatten gewonnen. Trotz meiner Taubheit. Obwohl ich die Musik nie hören konnte. Wir hatten gewonnen, weil ich meine anderen Sinne einsetzte. Weil ich mich von den Vibrationen im Boden, den Lichtern und den Berührungen meines Partners leiten ließ. Mein Blick wandert hinab zu ihrem Schnuller, ihren Ohren, während goldene Lichtstrahlen durch die trübe Wolkendecke brechen. Ich drücke ihr einen Kuss auf die Stirn. Und lächle an ihrer warmen Haut. Denn ich begreife: Auch sie wird gewinnen können. Obwohl sie die Musik und den Wind und mein Summen nicht hört. Auch sie wird im Leben gewinnen können.
weiterlesenPascal Hauser
Da saßen sie. Die Oiden. Unlust am Leben wie chronisch depressive, sich ritzende Jugendliche, maulten sie über jegliches Beklagen, als ob es das Ende des Bleibens der Zukunft wäre. „Was bleibt uns denn noch?“, fragte einer der Oiden, ein Mann runzelig wie eine Rosine. Während der Zwidere diese Anklagen an die Gerechtigkeit des Lebens stellte, spielten ganz in der Nähe drei Denker Basketball. Einer von ihnen vernahm das in den Ohren klirrende Schwatzen des Oiden. Diogenes war sein Name. Während dieser schwarze Sog alle anderen Beteiligten in ihren traurigen Bann zog, brachte der Sog Diogenes nur zum Kichern. Diogenes wusste die, beziehungsweise, einen Teil der Antwort. Dem Oiden blieb noch so viel. Ihm blieb Essen, Trinken, eine Wohnung, Sonnenlicht, Musik, und vor allem: die Zukunft. „Was grinst du so!?“, empörte sich der Oide. „Alles nehmen sie uns. Erst letztens ist mir zu Ohren gekommen, der Schwager meines Neffen meiner Großtante wurde letztens erst von ihnen verprügelt. Und in den Nachrichten sind sie überall. Diese Ausländer“, führte eine andere Oide fort. „Und nichts hält die Jugend mehr aus. Taugenichtse! Alle schauen sie nur auf das Handy. Keinen Respekt besitzen sie mehr. Und Umsicht sowieso nicht. Die stehen in der Bim nie auf. Dabei habe ich mein ganzes Leben nur geschuftet. Aber arbeiten wollen die ja nicht. Alle nur Teilzeit. Immer schlimmer wird es“, meinte eine weitere. Nun bekamen auch die anderen Denker davon Wind. Sokrates ging belustigt auf die Betagten zu. Er fragte: „Bleibt die Zukunft unbekannt, weil man sich ihr mutig öffnen muss. Oder hat man Angst vor der Zukunft, weil sie unbekannt bleibt?“ „Halt Abstand, du Sandler“, befahl einer der Oiden. Nun mischte sich Diogenes wieder ein: „Warum habt ihr Angst vor der Zukunft, wenn sie euch aber doch so gewiss ist?“ „Das ist doch logisch, du Tunichtgut“, schrie eine Oide wutentbrannt. „Wenn ihr wisst, was das Problem ist, warum unternehmt ihr nicht etwas?“ Verwirrt schaute ein Oida Diogenes an und antwortete dann: „Na, weil nichts zu unternehmen ist.“ „Wenn nichts zu unternehmen ist, dann muss es unveränderbar sein. Wenn etwas unveränderbar ist, ist es ein Naturgesetz. Und vor Naturgesetzen braucht man keine Angst zu haben. Wenn ich in einem brüchigen Haus lebe, muss ich dann Angst vor der Schwerkraft oder vor der unzuverlässigen Konstruktion haben? Wenn ich am Herd koche, habe ich dann Angst vor dem Satz der Thermodynamik oder habe ich Angst vor meiner eigenen Ungeschicktheit mich zu verbrennen? Das heißt, ihr habt Angst, weil ihr nichts ändern wollt.“ „Jetzt zieht endlich Leine, ihr Zigeuner“, kreischte eine Oide. „Ok“ sagte der dritte und die Denker zogen von dannen. Als die Denker wieder begannen, Basketball zu spielen, fragte ein Jugendlicher, ob sie ihn auch lehren könnten, wie eines Fels in der Brandung zu sein, weise wie die Zeit selbst und selbstsicher wie ein Baum weit über dem Krummholzgürtel. Da meinte der Dritte, das ihm die Zukunft bleibe, wenn er nicht aufhöre, offen im Denken und Herzen zu sein.
weiterlesenKilian Ratey
Eigenartig. Jeden Morgen, solange er sich zurück erinnern konnte, ging er seinem üblichen Ablauf nach. Er war ihn so gewohnt, dass es irritierend in seiner Befremdlichkeit für ihn gewesen wäre, hätte er sich je erlaubt, davon abzuweichen. Jener Ablauf verlief wie folgt: Er erhob sich aus seinem Bett, goss sich einen Tee auf, trat mit besagtem Tee vor die Tür, betrachtete die große, hohle Eiche, welche im wuchernden Garten neben seinem Fenster stand und ging mit der Zeitung unter einen Arm geklemmt wieder ins Haus. Sein Großvater hatte diesen Baum gepflanzt, als sein Vater noch ein Säugling war. Doch die Tage, als sich dieser morsche Koloss, der durch den Wind derart gebogen war, dass es so aussah, als würde er das Haus umarmen und infolgedessen langsam eins mit dem Haus werden, noch in einem Blumentopf befand, waren längst vorüber. In diesem Punkt sympathisierte er mit ihm. Bislang hatte er den Baum lediglich von unten gesehen. Nicht einmal als Kind hätte er sich getraut, ihn zu erklimmen, zumal er in seiner Familie als eine Art Heiligtum galt. Tatsächlich verspürte er bei dem Gedanken daran mehr Angst, als ein sonstiges Gefühl. Abgesehen davon, hätten das seine alten Knochen jetzt auch nicht mehr mitgemacht. Manchmal pfiff der Wind durch die Löcher im wurmzerfressenen Holz, was ihn an seinen Vater erinnerte. Wenn er nachts in seinem Bett schlief, konnte er ihn noch hören, wie er, den Schnaps im Arm, auf der Terrasse in seinem Schaukelstuhl saß und ein Liedchen pfiff. Es war immer dasselbe, und es übertönte jedes andere Geräusch der pechschwarz gefärbten Landschaft, sowohl das knarrende Holz als auch die Grillen im Schilf über dem Moor. An manchen Nächten bildete er sich ein zu hören, wie der Baum ähnliche Töne von sich gab. An jedem anderen Tag hätte er über all diese Dinge gar nicht nachgedacht, doch heute war etwas Eigenartiges geschehen. Dort, wo er an jedem anderen Morgen seine Brille aufgefunden hätte, griff er ins Leere. Auch seine Kleider, sowie seine Decke waren unauffindbar, denn nichts als Leere umgab ihn, so dachte er. Aber ein Blick in die Ferne belehrte ihn eines Besseren: Die alte Eiche umschlang die Leere anstelle des Hauses. Ihre schweren Äste ließen sie in der Dunkelheit wie eine gigantische Kreatur mit spinnenartigen Zügen wirken. Sowie sie zur selben Zeit aus der Erde spross, so lag sie, vom Alter niedergezwungen vor seinen bloßen Füßen. Die vertrauten Geräusche des Lebens waren nicht mehr zu hören. Stattdessen umgab ihn eine bleierne Ruhe, in der die Dinge nicht mehr ihre einstigen Bedeutungen trugen. Außer ihnen war ihm alles, was einst war, wie feiner Wüstensand durch die Finger geglitten und es zehrte an ihm. Er wollte nicht wahrhaben, dass das Haus nicht mehr existierte. Der Baum hatte ihm alles entrissen. Er brüllte ihn an, verfluchte ihn so lange, bis seine Stimme brach. Erschöpft saß er mit gesenktem Kopf an den Baum gelehnt und dachte nach. Er dachte an seinen Vater, an stumme Anliegen und an lautstarke Konflikte. Wenn er den Baum nur umgeschnitten hätte, dann wäre es vielleicht anders gekommen. Die Leere wirkte auf einmal erdrückend. Sie presste gegen seinen Schädel, als versuche sie hineinzudringen. Sich der Traurigkeit hinzugeben war zwar verlockend, doch sie drängte ihn, zwang ihn zur Akzeptanz. Die Falten schwanden, seine Wunden vernarbten, zugleich wuchs er und lernte zu sprechen, zu laufen. Er trat näher an den Baum heran, legte seine Hand auf die raue, rissige Rinde und spürte eine starke Verbundenheit. In ihren tiefen Furchen erkannte er seine eigenen. Der Schmerz, der sie beide durchzogen hatte, schien plötzlich bedeutungslos. Er verzieh ihm dafür, sich der Zeit hingegeben, wie auch, ihn mit sich gerissen zu haben, bevor er sich selbst dazu willens sah. Ihm war nicht klar, für wie lange, doch für den Augenblick spendeten sie in ebenjener Leere einander Trost. Er legte sich in eine Alkove im Stamm des Baums. Müde schloss er die Augen und in der Finsternis ertönte eine vertraute Melodie.
weiterlesenElina Strobl
Die Blätter sind grün. Die Blätter waren grün. Die Blätter sind grün gewesen. Die Blätter werden grün gewesen sein. Danach sind die Blätter rotbraun. Danach waren die Blätter rotbraun. Danach sind die Blätter rotbraun gewesen. Danach werden die Blätter rotbraun gewesen sein. Jetzt sind da keine Blätter mehr. Jetzt waren da keine Blätter mehr. Jetzt sind da keine Blätter mehr gewesen. Jetzt werden da keine Blätter mehr gewesen sein. Doch die Nadeln bleiben immer.
weiterlesenSophie Loder
Liebe Anna, ich kann mich noch genau an den Tag erinnern an dem ich dich zum ersten Mal sah. Es war der 24. Dezember 1992 im Haus von Oma Hilde. Das erste Mal seit Jahren wieder weiße Weihnachten. Es war Liebe auf den ersten Blick, auch wenn deine Familie später leichtes Unverständnis äußerte. Von diesem Tag an waren wir unzertrennlich, ich begleitete dich überall hin, zum Spielplatz, in den Kindergarten, ja sogar ins Bad folgte ich dir. Du warst meine beste Freundin, wir wussten alles übereinander. Du magst keine Erdbeeren und Lars aus der Schule magst du noch viel weniger. Doch mit der Zeit lebten wir uns auseinander, ich wartete geduldig, doch ich musste einsehen du kommst nicht wieder. Ich fand neue Freunde in dieser dunklen Zeit, doch keiner war wie du. Ich hatte dich schon fast vergessen, als ich dich vorgestern wieder sah. Beinahe hätte ich dich nicht erkannt mit dem runden Bauch und als Lars dann auch noch auftauchte, dachte ich ich bin im falschen Film. Während der Zeit ohne dich hat sich die Erde wohl ein bisschen weiter gedreht als mir bewusst war. Nun seid Lars und du also tatsächlich verheiratet und ein Baby bekommt ihr auch noch. Ein Mädchen, Elisa soll es wohl heißen. Ich sollte böse sein, dass du einfach ohne mich weitergemacht hast, aber was solls vergessen wir die dunkle Vergangenheit es ist die Zukunft, die bleibt. Elisa und ich werden uns bestimmt genau so gut verstehen wie wir zwei uns damals. In Liebe, deine Puppe Lisa P.S. 24 Jahre auf dem Dachboden sind eine Zumutung. Dein Teddy ist unfassbar nervig. Tu mir das bitte NIE wieder an!
weiterlesenEnya Neve
*Geräusche eines Lasters, eine gefesselte ohnmächtige Frau, sie wacht auf* Frau:*stöhnt vor Schmerzen**bemerkt ihre Fesseln* Hallo? Hört mich jemand? Unbekannter: *lehnt sich aus dem Schatten einer Ecke und redet mit bedrohlicher Stimme* Sei leise. Frau: *Frau erstarrt und bleibt für eine Weile ruhig, Fahrgeräusche* wo bringt ihr mich hin? *mit zittriger Stimme* Unbekannter: *bereits genervt* Hörst du schlecht? Du sollst leise sein! Frau: Bitte *mit zitternder weinerlicher Stimme* Meine kleine Schwester ist ganz alleine ohne mich. Bitte lassen Sie mich gehen! Unbekannter: Ist nicht mein Problem und jetzt halts Maul! *schlägt sie mit der Rückseite eines Gewehrs KO* *ein dreckiges Zimmer, Fenster ohne Glas durch welche die Abendsonne scheint, Wände aus Sandstein und 5 simple Krankenbetten* Frau: *wacht auf, gefesselt ans Bett* sie versucht Ihre Arme zu heben kommt aber nicht weit, lässt sie wieder fallen und beginnt leise zu schluchzen* Alte Frau: *betritt den Raum durch alte Krankenzimmer Tür und redet mit führsorglicher Stimme* Jetzt weine doch nicht Mädchen. Mach es dir nicht jetzt schon so schwer du musst stark bleiben. Frau: *schwach, traurig* Was passiert mit mir? Was mache ich hier? Ich möchte doch nur wieder zu meiner Familie! Alte Frau: Ich darf dir nichts sagen. Eigentlich wollen sie gar nicht das ich mit dir rede. Ich möchte mir nochmal deinen Kopf ansehen. Tut er sehr weh? Frau: *bemerkt erst jetzt ihre starken Kopfschmerzen* Ah, ja. Bitte helfen Sie mir! Alte Frau: Mit deinen Kopfschmerzen kann ich dir helfen, aber du musst hier bleiben sonst bekomme ich ärger. Frau: Bitte! Ich kann nicht- *Tür geht auf und zwei bewaffnete stark aussehende Männer kommen rein* Männer: Was machst du Alte? Du sollst doch nicht mit ihnen reden! Alte Frau: Ich wollte mir nur nochmal ihren Kopf ansehen *schaut der Frau entschuldigend in die Augen* Ich gehe jetzt. *senkt ihren Kopf und verlässt den Raum. Männer wenden sich and Frau* Männer: Kelly richtig? Frau (Kelly): Ja, woher- Männer: Den Namen brauchst du nicht mehr. Du bekommst neue Kleidung und eine Nummer zugeteilt. Die Alte hat nichts weiter zu deinem Zustand gesagt also kommst du jetzt mit. *Kelly traut sich nichts zu sagen. Die Männer nehmen ihre Bett-Fesseln ab und verbinden ihre Hände aber gleich wieder mit einem Strick. Gemeinsam verlassen sie den Raum und gehen hinaus* *Ein neuer Raum. Viele andere Frauen in Häftlings ähnlicher Kleidung (die Kelly mittlerweile auch trägt), welche Fussfesseln tragen über Schüsseln gebeugt und am Stoffe waschen.* Männer: *bringen sie zu einem leeren Platz* Hier wirst du arbeiten. Die Arbeit ist nicht kompliziert. Da hinten stehen mehrere Körbe mit verschiedenen Stoffen. Du nimmst dir einen und wäscht ihn gründlich und gibst ihn dann zu den gewaschenen Sachen dort hinten. Danach holst du dir einen neuen. Und jetzt fang an! Frau: Wohin gehe ich, wenn ich aufs Klo muss? Männer: In der Ecke da hinten ist ein Loch, das soll euch reichen! *Bühne wird wiederholt dunkel und jedes Mal ist Kelly älter bis ihr Platz leer ist.*
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